25.04.2024 | Interview

»Kanzlei­entwicklung ist immer Persönlichkeits­entwicklung«

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Von Manuel Maurer, STB Web / Interview mit Marion Ketteler, Kanzleiprofiling

Fachkräftemangel, Digitalisierungsstau und Kapazitätsengpässe - für Marion Ketteler gibt es hierzu ein übergeordnetes Problem, nämlich die fehlende Unternehmensstrategie. Statt proaktiver Gestaltung werde immer erst dann reagiert, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Sie weiß, wovon sie spricht, denn mit ihrem Unternehmen Kanzleiprofiling hat sie sich auf Change-Prozesse in Kanzleien spezialisiert. Wir sprachen mit Marion Ketteler über aktuelle Branchenthemen und warum Veränderungsprozesse allein mit Technik nicht machbar sind.

Foto: Marion Ketteler berät nicht nur Kanzleien, sondern coacht auch die Menschen, die in ihnen arbeiten. Denn damit Veränderungsprozesse gelingen, muss man die Menschen mitnehmen und begleiten, so ihre Überzeugung.

Manuel Maurer:
Frau Ketteler, Sie haben ja praktisch die Seiten gewechselt und sind nach langjähriger Tätigkeit in Steuerkanzleien heute als Beraterin und Coach für Kanzleien tätig. Was hat Sie zu dem Wechsel bewogen?

Marion Ketteler:
Ich komme aus einem Unternehmerhaushalt und mein Bild von Selbstständigkeit war immer positiv und erstrebenswert für mich. Deswegen wollte ich auch selbstständig sein, allerdings nicht als Steuerberaterin mit einer Kanzlei. Den Traum habe ich dann 2014 verwirklicht, als ich das für mich passende Konzept entwickelt hatte.

Dass meine Kunden Steuerberater beziehungsweise Steuerkanzleien sind, hat damit zu tun, dass ich noch während meiner früheren Tätigkeit festgestellt habe, dass es Beratungsbedarf in Bereichen gibt, die ich gut begleiten kann. Das Fachliche wird ja gerne in den Vordergrund gerückt und ist auch wichtig. Allerdings sind Themen wie Strategie, Arbeitsorganisation, Prozessentwicklung oder Personalführung auch wichtig, weil sie das fachliche Arbeiten ja eigentlich erst ermöglichen.

Ich habe am eigenen Leib erlebt, wie sich schlechte Arbeitsorganisation anfühlt.

Zudem habe ich am eigenen Leib erlebt, wie sich schlechte Arbeitsorganisation anfühlt oder mit welchem mulmigen Gefühl man in das jährliche Mitarbeitergespräch geht, weil es nicht gut vorbereitet und durchgeführt wird. Ich wusste, dass ich dort guten Mehrwert bieten kann, weil ich "die andere Seite des Schreibtischs" eben gut kenne. Für meine Kunden ist es auch angenehm, dass ich aus der Branche komme, weil wir dann keine Verständigungsschwierigkeiten haben und die Bereitschaft höher ist, sich von jemanden unterstützen zu lassen, der den Inhalt der Tätigkeit und die Probleme genau kennt.

Manuel Maurer:
Fachkräftemangel, Digitalisierungsstau und Kapazitätsengpässe sind anscheinend die Dauerbrenner in den Kanzleien. Man sollte eigentlich meinen, mit der Digitalisierung den Schlüssel zu effizienterem Arbeiten zu haben. Warum klappt das nicht so richtig oder klappt es tatsächlich besser als öffentlich oft dargestellt?

Marion Ketteler:
Wenn ich die aufgeführten Punkte zusammennehme, denke ich, dass es ein übergeordnetes Problem gibt: Es gibt oftmals keine vernünftige Unternehmensstrategie, an die sich alle halten und an der sich alle orientieren können. Das führt dann zu einer reaktiven Haltung und verhindert eine proaktive Gestaltung: Es wird immer erst dann reagiert wird, wenn es eigentlich schon zu spät ist.

Manuel Maurer:
Da stellt sich die Frage, was eigentlich Ursache und was Wirkung ist...

Der Fachkräftemangel wird erst dann angegangen, wenn er eklatant ist.

Marion Ketteler:
Ganz genau. Der Fachkräftemangel wird erst dann angegangen, wenn er eklatant ist und nicht mehr wegdiskutiert werden kann. Die Digitalisierung wird erst dann angegangen, wenn allen die Arbeit über den Kopf wächst und der Kapazitätsengpass ist dann die logische Folge daraus.

Wer dagegen eine solide Strategie hat und weiß, wo er mit seiner Kanzlei in drei oder fünf Jahren stehen möchte, kann alle mitnehmen und gemeinsam überlegen, wie das Ziel erreichbar wird. Hier wird proaktiv und mit Weitblick gehandelt.

Manuel Maurer:
Das heißt, die klassische Frage aus dem Bewerbungsgespräch "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" sollte die Kanzleiführung erstmal selbst beantworten können...

Marion Ketteler:
Ich vergleiche das immer gerne mit einer Schifffahrt: wenn der Kapitän kein Ziel hat, kann er zwar auch mit dem Schiff fahren und unterwegs sein. Er kann auch ein guter Kapitän sein. Allerdings wird er sein Ziel nie erreichen, weil er ja keines hat. Dann ist jeder Hafen recht oder eben auch nicht recht. Der Weg ist dann auch beliebig, weil es ja keine genaue Route gibt. Dann gibt, um im Bild zu bleiben, der Wind die Richtung vor. So verhalten sich Kanzleien, die die oben angesprochenen Probleme haben. Sie können immer nur auf das reagieren, was gerade passiert und das führt dann zu den genannten Herausforderungen.

Wer eine konkrete Vorstellung seiner Kanzlei in der Zukunft und einen Plan hat, wird dagegen heute schon dafür sorgen, auf dem kürzesten Weg und mit dem besten Einsatz von Ressourcen zum Ziel zu gelangen.

Wer ein Ziel hat, wird die Digitalisierung nicht aus Not angehen, sondern mit Überzeugung und Schritt für Schritt dafür sorgen, dass man damit dem eigenen Ziel näherkommt.

Das Thema Digitalisierung wird oft nicht durchdrungen.

Manuel Maurer:
Der Begriff Digitalisierung hat sich allerdings auch zu einem Allgemeinplatz entwickelt...

Marion Ketteler:
Das Thema Digitalisierung wird oft nicht durchdrungen: Digitalisierung ist eben nicht, Papier durch PDF zu ersetzen. Die sinnvolle Nutzung der Digitalisierung setzt unter anderem ein technisches Verständnis bei der Kanzleileitung und den Mitarbeitenden voraus. Da erlebe ich gerade bei den kleineren Kanzleien noch erheblichen Nachholbedarf. Das führt dann auch dazu, dass die Digitalisierung stockt und eben nicht zu mehr Effizienz führt. Eher sogar zum Gegenteil, weil dann die Prozesse nicht mehr eindeutig sind und die Digitalisierung nicht an einen Punkt kommt, wo Effizienzgewinne möglich werden.

Manuel Maurer:
Also gibt es nach wie vor viel Aufholbedarf?

Marion Ketteler:
Wie digital oder nicht digital die Branche wirklich ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich aus meiner Erfahrung heraus sagen kann: Steuerkanzleien mit einer Handvoll Partner:innen und ab 25 Beschäftigten sind in der Regel digital gut aufgestellt. Bei den kleineren Kanzleien hängt es sehr an der Person der Kanzleileitung: ist technische Affinität vorhanden, sind sie oft erstaunlich digital unterwegs. Ist das Gegenteil der Fall, wundere ich mich, dass es nicht noch amerikanische Journale gibt, die zur Bearbeitung eingereicht werden.

Manuel Maurer:
Kommen wir mal von der Technik zu den Menschen. Sie arbeiten in Ihren Coachings immer auch sehr eng mit den Personen in der Kanzlei. Kann man sagen, dass Kanzleientwicklung auch mit Persönlichkeitsentwicklung einhergeht oder sogar einhergehen muss? Wie bringen Sie das zusammen?

Marion Ketteler:
Kanzleien sind ja keine von den Menschen unabhängigen Organisationen. Wenn sich die Organisation entwickeln und verändern soll, müssen es die Menschen in ihr tun. Denn sie bewirken ja durch ihr Tun und Unterlassen gerade die Veränderung. Und deshalb weiß ich, dass Kanzleientwicklung immer Persönlichkeitsentwicklung ist.

Wenn ein Mensch schlecht Nein sagen kann, wird er vielleicht Mandanten annehmen, die für die strategische Entwicklung der Kanzlei nicht förderlich sind.

Manuel Maurer:
Können Sie ein konkretes Beispiel aus der Praxis geben, um dies zu erläutern?

Marion Ketteler:
Gern. Wenn ein Mensch schlecht Nein sagen kann, wird er vielleicht Mandanten annehmen, die für die strategische Entwicklung seiner Kanzlei nicht förderlich sind oder etwas für einen Mandanten tun, wozu er eigentlich nicht verpflichtet ist. Wer sich schlecht abgrenzen kann, wird stets für die Kollegen und Mandanten da sein und das eigene Zeitmanagement wird dadurch arg strapaziert sein. Das trifft auf Kanzleiinhaber wie auf Mitarbeitende zu.

In meiner Arbeit gehen Beratung und Coaching deshalb Hand in Hand. Wenn wir in der Beratung Ziele festgelegt haben und es an die Umsetzung geht, sorge ich dafür, dass die Ziele auch erreichbar werden. Wenn es auf dem Weg Hindernisse gibt, schauen wir sie uns an und räumen sie aus dem Weg. Mal mit einer Coachingintervention, mal mit einer spezifischen Beratung. Deswegen kann ich auch nur Menschen gut beraten und coachen, die offen für die eigene Entwicklung und für Veränderungen sind. Das Gute an der Sache ist ja, dass man neue Verhaltensmöglichkeiten und Sichtweisen nicht nur im Beruf, sondern auch im übrigen Leben zu seinem Vorteil nutzen kann. Das wird mir auch regelmäßig von meinen Kunden gespiegelt.

Manuel Maurer:
Veränderung setzt Veränderungsbereitschaft voraus, die rational zwar meist gegeben ist, aber emotional nochmal eine besondere und sehr persönliche Herausforderung für alle am Prozess Beteiligten bedeuten kann. Wird dieser Aspekt vernachlässigt und auch unterschätzt, während sehr stark auf die technische Entwicklung geschaut wird?

Marion Ketteler:
Kurz und knapp beantwortet: Ja. Das ist in allen Statistiken zu Change Projekten nachlesbar und der Grund, weshalb die meisten Change Prozesse scheitern.

Manuel Maurer:
Können Sie das noch etwas näher erläutern? Welche psychologischen Ebenen werden adressiert, wenn Veränderungen anstehen?

Wenn es gelingt, den Menschen mitzunehmen, ist die Technik nur ein kleiner und nicht der wichtigste Umsetzungsschritt.


Marion Ketteler:
Dazu möchte ich drei Aspekte anführen: Veränderungsprozesse scheitern an der Mitarbeit der Beschäftigten, wenn diese nicht gut begleitet und integriert werden. Selbst rationale und emotionale Veränderungsbereitschaft reicht ja nicht aus, wenn man nicht weiß, wie man sich verändern kann. Das geht eben nicht mit einer Anweisung, sondern braucht gute Begleitung und Coaching.

Der zweite Aspekt ist, dass Menschen sich deswegen nicht gerne verändern, weil sie die Abwertung des zuvor Geleisteten fürchten. Wenn alles anders gemacht werden soll, kann man die Frage stellen, ob das zuvor Geleistete nicht gut war. Auch hier braucht es wertschätzende Begleitung, damit das Alte gut losgelassen werden kann.

Der dritte wichtige Aspekt ist die Angst, die mit der Veränderung einhergeht: Werde ich dem Neuen gerecht? Kann ich mich schnell genug auf das Neue einstellen und die geforderten Dinge umsetzen? Gibt es Kompetenzeinbußen und wenn ja, wie gehe ich damit um? Auch hier braucht es Beachtung und Wertschätzung.

Menschen sind eben nicht Maschinen und deswegen ist der Fokus auf die Technik auch nicht der richtige, wie die obigen Aspekte zeigen. Wenn es gelingt, den Menschen mitzunehmen, ist die Technik nur ein kleiner und nicht der wichtigste Umsetzungsschritt.

Manuel Maurer:
Ich würde gern noch auf das Thema Diversity zu sprechen kommen, das glaube ich oft nicht so richtig ernst genommen wird. Dabei geht es ja keineswegs nur um die Geschlechterverhältnisse, sondern um die Schaffung eines diskriminierungsfreien Arbeitsumfelds und auch Chancen für die Organisation durch sozio-kulturelle Vielfalt. In einem Ihrer Blogbeiträge zitieren Sie die Mitarbeiterin einer Kanzlei: „Wer in der Steuerberatung als Fachkraft angesehen werden will, hat den Beruf von der Pike auf gelernt und Deutsch als Muttersprache.“ Das klingt wahrlich anachronistisch und ist vermutlich keine Ausnahme. Wie beurteilen Sie den Diversity-Ansatz im Kontext des Fachkräftemangels?

Von einem Diversity-Ansatz kann in der Steuerberatung meiner Meinung nach keine Rede sein.

Marion Ketteler:
Von einem Diversity-Ansatz kann in der Steuerberatung meiner Meinung nach keine Rede sein. Sicherlich werden zum Beispiel vermehrt Menschen mit Migrationshintergrund eingestellt – aber nicht aus einer proaktiven Beschäftigung mit diesem Thema und als Ausdruck einer Haltung. Sie werden eingestellt, weil es kaum andere Bewerbende auf dem Markt gibt oder, in seltenen Fällen, weil man neben den steuerlichen Kenntnissen bestimmte Sprachkenntnisse benötigt, die diese Person dann mitbringt.

Das Potenzial heterogener Teams hat sich in der Steuerwelt allgemein noch nicht herumgesprochen. Das bezieht sich nicht nur auf den Menschen selbst, sondern auch auf die Vorbildung. Quereinsteiger oder Menschen mit anderen Ausbildungen haben es immer noch schwer und das führt dann ja letztlich zu dem von Ihnen genannten Zitat aus meinem Blogbeitrag.

Manuel Maurer:
Was braucht es stattdessen?

Marion Ketteler:
Es braucht in der Branche mehr Offenheit: gegenüber Menschen mit anderen Vorbildungen, anderen Herkünften oder auch anderen Ansichten. Schade, dass das so wenig in Kanzleien thematisiert wird, damit es sich verändern kann oder damit es überhaupt ein Bewusstsein für dieses Thema gibt. 


Zur Person

Marion Ketteler Marion Ketteler ist Coach und Beraterin für Steuerkanzleien, Ihre Schwerpunkte sind Change-Prozesse, Arbeitsorganisation, Führungkräfteentwicklung und Mitarbeiterführung. Sie kommt selbst aus der Branche und ist Gründerin und Inhaberin des Beratungsunternehmens Kanzleiprofiling (www.kanzleiprofiling.de).

Manuel Maurer Manuel Maurer ist Herausgeber und Chefredakteur von STB Web (www.stb-web.de). Daneben berät und unterstützt er Kanzleien rund um ihre Kanzlei-Website und hat sich auf Content-Marketing-Konzepte spezialisiert. Kontakt auf LinkedIn