30.06.2022 | Interview

Regulatorik: Mehr Technik zulassen

Von Alexandra Buba / Interview mit Melchior Neumann

Es bewegt sich was in der Tech-Branche für Steuerberatende. So gibt es eine ganze Reihe von Start-ups zu Spezialaspekten der Deklaration, zur effizienteren Organisation oder zur Onlineberatung. Zunehmend öffnet sich auch die Datev fremden Lösungen, gibt sukzessive den Anspruch des Universalanbieters auf. Doch in welchem Rechtsrahmen bewegen sich diese Entwicklungen? Und haben sie überhaupt eine Chance, sich dauerhaft auf einem Markt zu etablieren, der von strikter Regulierung gekennzeichnet ist? Wie beeinflussen sich Verkammerung und Innovation? Fragen, die STB Web Melchior Neumann stellte, Chief Tax Officer bei Kontist in Berlin.

STB Web:
Melchior, wie nimmst Du die Entwicklungen in der Tech-Branche rund um das Thema "Steuern" gerade wahr? 

Melchior Neumann
Melchior Neumann (Foto: Caroline Pitzke)

Melchior Neumann:
Meiner Einschätzung nach ist da gerade viel Geld im Umlauf, vor allem im B2C-Bereich. Da beginnt es ja meist, aber ich muss ganz ehrlich sagen: Was ist denn B2C in der Steuerberatungsbranche? Selbst Solo-Selbstständige fallen da ja schon nicht mehr darunter. Von daher glaube ich, dass sich das Engagement in den B2B-Bereich verlagern wird. Daneben sehe ich das Problem, dass hier viele Player gerade dieselben Probleme lösen; Opensource wäre also schon eine gute Idee, allerdings müsste der Staat dann der Inhaber eines solchen Projekts sein.

STB Web:
Der ist aber notorisch misstrauisch im Hinblick auf die Steuerehrlichkeit aller seiner Bürger und Softwareanbieter...

Melchior Neumann:
Ja, doch das ist in meinen Augen unbegründet. Denn: Es sind so viele unterschiedliche Leute beteiligt, dass das ganze System dadurch sicher wird, siehe Kryptowährungen, die gerade deshalb so sicher sind, weil so viele Menschen beteiligt sind. Die größte Hürde ist nicht die Garantie der Rechtssicherheit einer Open Source-Basis, sondern die Mentalität: Das Steuerrecht ist deshalb so komplex, weil es sicherstellen will, dass jeder Einzelfall korrekt abgebildet wird - und zwar von Anfang an. Das funktioniert in der Tech-Welt aber so nicht: Hier sorgt ein iterativer Ansatz dafür, dass nach und nach Fehler verschwinden.

Ohne Regulierung würden wir das wahrscheinlich alle längst irgendwie mit Google oder Amazon machen.

STB Web:
Doch die strikte Regulierung in Deutschland und Europa sorgt ja letztlich auch dafür, dass es überhaupt einen TaxTech-Markt gibt, oder?

Melchior Neumann:
Ohne Regulierung würden wir das wahrscheinlich alle längst irgendwie mit Google oder Amazon machen, sicherlich. Insofern nützt der Rechtsrahmen einerseits, um überhaupt einen Businesscase zu haben. Andererseits ist es natürlich extrem schwierig, zum Beispiel automatisierte Prozesse und Vorbehaltsaufgaben zu kombinieren.

STB Web:
Hast Du da ein Beispiel für mich?

Melchior Neumann:
Den Klassiker – die Umsatzsteuervoranmeldung. Hier haben wir ein vollautomatisiertes Verfahren, das aus der Buchhaltung heraus alles selbstständig erledigen... könnte! Denn wir mussten einen Schritt einbauen, an dem ein Berater oder eine Beraterin auf den Knopf drückt und die Übermittlung dadurch freigibt, da dies ja eine Vorbehaltsaufgabe ist. 

STB Web:
Es gibt eine ganze Reihe von Vorbehaltsaufgaben, die problemlos automatisiert die Maschine erledigen würde, wenn sie denn dürfte. Wie beurteilst Du das? 

Melchior Neumann:
Ich will nicht derjenige sein, der immer nur dagegen ist, nein. Natürlich sind wir auch eine Kanzlei und leben nicht zuletzt davon, dass es diese starke Abschirmung des Berufsstandes gegen gewerbliche Anbieter oder die internationale Konkurrenz gibt. Doch gerade letzteres, also die Dienstleistungsrichtlinie und alles was damit zusammenhängt, wird in einem zunehmend internationalen Umfeld für Innovationen zum Riesenblocker. Und mein persönlicher Feind, die Steuerberatervergütungsverordnung, sorgt nicht nur dafür, dass wir gesetzlich abgesicherte Umsätze haben, sondern auch dafür, dass der Druck deutlich geringer ist, Prozesse effizient zu gestalten. 

Es fühlen sich zwar alle wahnsinnig überlastet, aber abgeben will auch keiner was.

STB Web:
Dennoch beklagt der Berufsstand Arbeitsüberlastung und setzt sich immer wieder erfolgreich in Berlin für Fristverlängerungen ein... 

Melchior Neumann:
In meinen Augen ist das alles extrem von Angst gesteuert. Es fühlen sich zwar alle wahnsinnig überlastet, aber abgeben will auch keiner was. Wie soll man da zu einer Lösung finden? Die gibt es ja durchaus - einfach, indem man mehr Technik zulässt. Das bedeutet ja nicht gleich, auf alle Regulierung zu verzichten, im Gegenteil. Ich bin sehr dabei, Unternehmen wie Wirecard engmaschig von Berufsträgern begleiten und nicht ihre Erklärungen vollautomatisiert generieren und prüfen zu lassen. Aber Dinge, über die man schon nach dem Mathematikunterricht der vierten Klasse hinaus ist, krampfhaft als Vorbehaltsaufgabe verteidigen? Ehrlich? Eine EÜR für einen Solo-Selbstständigen? Wieso soll das nicht Technik machen? 

STB Web:
Wo liegt für dich das Kernproblem, und wie kommen wir da raus? 

Melchior Neumann:
Ich glaube, der Anstoß muss von außen kommen, da die meisten Steuerberater keine guten Unternehmer sind. Denn bei innovativer Technologie hast du immer das Problem, dass du zu Anfang eine hohe Investition tätigen musst, die sich erst nach mehreren Jahren rechnet. Davor scheuen Beratende mehrheitlich zurück, sie können nicht zehn oder 20 Millionen in die Hand nehmen, um das Geschäft nach vorn zu bringen. Und sie dürfen im Grunde ja auch gar nicht anders: Nach geltendem Recht können im Grunde nur Berufsträgerinnen und Berufsträger Geschäftsführende einer Beratungsgesellschaft sein. Weshalb? Gibt es nicht in anderen Branchen gute Gründe, warum nicht Ingenieure einer großen AG vorstehen sondern Betriebswirte? Spezialisten für Unternehmensführung? 

Die Abschottung führt doch nur dazu, dass zunächst einmal alle verlieren.

STB Web:
Du bist also dafür, Steuerberatungsgesellschaften auch von Berufsfremden führen zu lassen? 

Melchior Neumann:
Selbstverständlich. Die Abschottung führt doch nur dazu, dass zunächst einmal alle verlieren: Die Berufsangehörigen sind überarbeitet, innovative Softwareanbieter haben wenig Chance und die Mandantinnen und Mandanten zahlen zu viel Geld für Standard-Dienstleistungen. Am Ende des Tages aber ist es mir - in meiner Eigenschaft als Tech-Anbieter - dann egal, ob ich mein Produkt an Berater oder Endkunden verkaufe. Hinzu kommt der Fachkräftemangel: Wer will denn schon in einer Branche arbeiten, in der 80 Prozent der Zeit Mist-Arbeit im Stile des letzten Jahrhunderts erledigt wird? 

Wenn selbst eine Datev bei Fino einsteigt, dann macht das Hoffnung auf Bewegung.

STB Web:
Das klingt jetzt alles ein bisschen sehr pessimistisch - gibt es auch Dinge, die Dir Hoffnung und Perspektive geben? 

Melchior Neumann:
Ja, auf jeden Fall! Zunächst haben wir ja gerade in Berlin unser TaxTech-Event organisiert und hatten wirklich alle vor Ort - auch Steuerberaterinnen und Steuerberater. Anders als vielleicht früher war ganz stark der gegenseitige Respekt und das Interesse an der Arbeit des anderen zu spüren. Damit meine ich auch die Tech-Leute, die nicht einfach mehr davon ausgehen, dass man das ja eben einfach schnell hin gecodet bekommt, was Steuerberatende sich an Wissen und Erfahrung über Jahre aufgebaut haben. Es gibt tatsächlich eine neue Generation, die anders an die Dinge herangeht. Außerdem lässt sich auch auf Investorenseite erkennen, dass eine Öffnung hin zu Innovation und Kooperation stattfindet - wenn selbst eine Datev bei Fino einsteigt, dann macht das Hoffnung auf Bewegung, definitiv.

Zur Person

Melchior NeumannMelchior Neumann absolvierte Ausbildung und Studium in der Steuerberatung (ETL-Gruppe und KPMG) und war anschließend selbständiger Berater unter anderem für verschiedene Buchhaltungs- und Steuertools; außerdem gründete er das größte Nachwuchsportal der Steuerberatung in Deutschland (www.steuerazubi.de) und 2020 zudem den Kontist Steuerservice gemeinsam mit einem Partner.

Alexandra BubaDas Gespräch führte Alexandra Buba. Sie ist freie Journalistin und spezialisiert auf die Themen der Steuerberatungsbranche (www.medientext.com) und schreibt regelmäßig für die STB Web-Redaktion.

 


Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 30.06.2022, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.