26.08.2021 | Praxishinweise/Kommentar
Von RAin Susanne Christ, Fachanwältin für Steuerrecht
Das BVerfG hat entschieden, dass Zinsen von 6 % jährlich für Steuernachforderungen und Steuererstattungen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen verstößt und die Festsetzung solcher Zinsen ab 2014 für verfassungswidrig erklärt. Zur Sicherung des Staatshaushaltes hat es aber zugleich bestimmt, dass die bisherigen seit 2014 als verfassungswidrig eingestuften Zinsfestsetzungen bis Ende 2018 fortgelten dürfen. Seit 2019 darf die bisherige Regelung nicht mehr angewendet werden; die Gesetzgebung ist aufgefordert, bis zum 31.12.2022 diese durch eine verfassungsgemäße Regelung zu ersetzen.
Dass das BVerfG am 8.7.2021 (Az. 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) die bestehende Vollverzinsung von Steuernachforderungen (und Steuererstattungen) mit 6 % jährlich angesichts immer weiter sinkender Zinsen als verfassungswidrig einstuft, ist nicht weiter überraschend. Überraschend ist, dass die Regelung aber erst 2019 geändert werden soll.
Dass das BVerfG die Zinserhebung (und Zinsauszahlung in Erstattungsfällen) für Zinszeiträume bis Ende 2018 aufgrund Fortgeltungsanordnung noch als zulässig anordnet, ist wenig einleuchtend. Geklagt wurde gegen eine Zinsfestsetzung für die Festsetzung einer Gewerbesteuernachzahlung aus dem Jahre 2014. Schon im Veranlagungszeitraum 2014 war die Erzielung von nennenswerten Zinsen illusorisch und dieser Umstand war dem Fiskus und der Gesetzgebung auch schon zu diesem Zeitpunkt bekannt.
Deshalb ist die vom BVerfG angeordnete Fortgeltung des bisherigen Zinssystems bis Ende 2018 mit dem Hinweis auf Planungssicherheit der Staats-, Landes- und Gemeindehaushalte nicht nachzuvollziehen. Die Entscheidung führt dazu, dass der Fiskus und die Gesetzgebung letztendlich dafür „belohnt“ werden, sich beharrlich geweigert zu haben, sich der aufgrund veränderter wirtschaftlicher Verhältnisse aufdrängenden Verfassungswidrigkeit bestehender Steuergesetze zu stellen und diese von sich aus verfassungsgemäß zu gestalten. Dies zeigt auch eine Schwäche des bestehenden Grundrechtsschutzes durch das BVerfG auf: Hoheitsträger werden nicht verpflichtet, von sich aus auf die Verfassungsmäßigkeit bestehender Regelungen zu achten, sondern erst wenn sich betroffene Bürger*innen dagegen zur Wehr setzen, werden nach – langjähren und verfahrensrechtlich außerordentlich schwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen – Verfassungswidrigkeiten festgestellt und häufig für die Vergangenheit hingenommen. Eine solche Rechtsprechung motiviert die Gesetzgebung geradezu dazu, es mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Hoheitsakten nicht so genau zu nehmen. Dies ist wohl auch ein Grund dafür, dass die Gesetzgebung nicht von sich aus längst tätig geworden ist.
Die Entscheidung des BVerfG erging zur der Zinsfestsetzung für die Gewerbesteuer 2014. Gleichwohl hat das BVerfG festgestellt, dass nicht nur 2014, sondern erst recht in den Folgejahren ein Zinssatz von 6 % jährlich verfassungswidrig ist. Für die Praxis bedeutsam ist aber, dass das BVerfG eine Änderung erst ab dem Kalenderjahr 2019 fordert, für die Zeiträume 2014-2018 hat es angeordnet, dass die bisherige Regelung, trotz ihrer Verfassungswidrigkeit, weiterhin gilt.
Auch wenn die Verfassungsbeschwerde sich gegen die Zinsfestsetzung des Jahres 2014 für eine Nachforderung von Gewerbesteuer richtete, betont das BVerfG, dass die Entscheidung für alle Steuerarten gilt, für die die Vollverzinsung nach § 233a AO angeordnet wird, also die Einkommens-, Körperschafts-, Umsatz-, Gewerbe- und Vermögenssteuer.
Nicht von der Entscheidung betroffen sind Zinsen, die für Stundung, Aussetzung oder Hinterziehung von Steuern erhoben werden. Hier gelten, so das BVerfG, andere Verfahrensgrundsätze, die nicht mit der Verzinsung von Gewerbesteuernachforderungen vergleichbar sind. Daher könne die Entscheidung zur Verzinsung von Gewerbesteuer nicht auf diese Zinspflichten übertragen werden. Leiten ließ sich das BVerfG vor allem von dem Aspekt, dass es anders als bei der Vollverzinsung von Steuernachforderungen die Steuerpflichtigen selbst in der Hand haben, diese Zinsen entstehen zu lassen. Denn die Stundung oder Aussetzung der Vollziehung einer Steuer erfolgt in der Regel nur auf Antrag der steuerpflichtigen Personen. Wird sie von Amts wegen gewährt, kann sie auch durch entsprechenden Antrag der Steuerpflichtigen wieder abgewehrt werden. So kann eine Verzinsung mit dem teuren Zinssatz des Fiskus von den steuerpflichtigen Personen, anders als bei der Vollverzinsung nach § 233 a AO, selbst abgewehrt werden. Aber: auch wenn die Entscheidung diese Zinsen nicht miterfasst, ist es denkbar, dass die Gesetzgebung auch diese Verzinsung mit in die verlangte Neuregelung einbeziehen wird.
Achtung! Die Entscheidung gilt insbesondere nicht für die Verzinsungspflicht von Erbschafts- und Schenkungssteuer. Diese ist grundsätzlich, so lange sie noch nicht festgesetzt wurde, nicht zu verzinsen. Erst wenn sie, beispielsweise, aufgrund eines Aussetzungsantrags nach ihrer Festsetzung (vorläufig) nicht zu zahlen ist, werden Zinsen von 6 % jährlich bzw. 0,5 % monatlich erhoben, wenn dem Rechtsbehelf nicht oder nicht vollständig stattgegeben wird.
Das BVerfG betonte auch, dass seine Entscheidung nicht nur für vom Fiskus festgesetzte, sondern auch für von ihm geleistete Zinszahlungen bei Steuererstattungen gilt. Die gute Nachricht ist daher, dass Zinsen für die Zinszeiträume 2014-2018 nicht zurückgezahlt werden müssen, obwohl auch deren Gewährung verfassungswidrig war.
Aber Achtung! Zinsen, die ab den Zinszeiträumen 2019 gezahlt werden, können ggf. vom Fiskus zurückgefordert werden, je nachdem, wie die Neuregelung gestaltet werden wird. Hierauf sollten Betroffene hingewiesen werden. Die Unsicherheit wird spätestens Ende 2022 beendet werden.
Hinweis: Betroffen sind hiervon vor allem Zinsen, die für Steuererstattungen der Veranlagungszeiträume 2018 und früher gewährt worden sind bzw. noch gewährt werden und Zinszeiträume seit 2019 betreffen.
Beispiel: Für den Veranlagungszeitraum 2017 wird am 7.1.2020 eine Einkommensteuererstattung in Höhe von 10.000 EUR festgesetzt. Der Zinszeitraum umfasst den Zeitraum 1.4.2018 bis 31.12.2019, die Zinsen belaufen sich auf insgesamt 1.050 EUR. Auf 2019 entfallen davon 600 EUR (= 6 % von 10.000 EUR), sodass es denkbar ist, dass die auf 2019 entfallenden Zinsen in Höhe von 600 EUR – je nach Neuregelung – zurückzuzahlen sind.
Für den Veranlagungszeitraum 2019 wurden bislang keine Zinsen für Steuererstattungen gezahlt beziehungsweise Steuernachforderungen festgesetzt. Denn parallel zu der coronabedingten Verlängerung der Abgabefristen für Steuererklärungen in beratenen Fällen für den Veranlagungszeitraum 2019 auf den 31.8.2021 wurde der Zinsbeginn für den Veranlagungszeitraum 2019 vom 1.4.2021 auf den 1.10.2021 verlagert, so dass es zu ersten Zinsfestsetzung für den Veranlagungszeitraum 2019 erst Anfang November 2021 kommen dürfte. Es darf erwartet werden, dass sich der Fiskus bis zum 1.11.2021 auf die Rechtsprechung des BVerfG eingestellt hat.
Beratungshinweis: Sind Ihrer Mandantschaft seit 2019 Zinsen zugeflossen oder fließen solche noch zu, sollten Sie darauf hinweisen, dass diese ggf. zurückzuzahlen sind. Ob das der Fall sein wird, hängt davon ab, wie die Gesetzgebung die Neuregelung gestalten wird.
Ab dem Zinszeitraum 2019 darf der Fiskus für Einkommens-, Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftsteuer nicht mehr auf das bisherige Zinssystem zurückgreifen, sondern muss dafür bis zum 31.12.2022 eine Neuregelung schaffen, die verfassungsgemäß ist. Dabei kann sie sich entscheiden zwischen einem variablen oder einem pauschalierten System, wie dem bisherigen, allerdings unter Berücksichtigung aktueller Zinssätze. Denkbar ist auch, dass das Zinssystem insgesamt, insbesondere mit Blick auf die aktuelle Erhebung von Minuszinsen, ganz abgeschafft wird.
Betroffen von der Entscheidung des BVerfG sind auch Steuerpflichtige, die Erstattungszinsen für Zeiträume ab 2019 erhalten haben beziehungsweise noch erhalten werden. Denn das BVerfG weitete seine Entscheidung auch auf Erstattungszinsen aus.
Die Entscheidung des BVerfG gilt nicht für die Festsetzung von Stundungs-, Aussetzung- und Hinterziehungszinsen.
Im Ergebnis führt die Entscheidung des BVerfG dazu, dass Zinsfestsetzungen für Zeiträume bis einschließlich 31.12.2018 hingenommen werden müssen, obwohl diese seit 2014 wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung verfassungswidrig erhoben werden. Und zwar auch dann, wenn diese erst nach Bekanntgabe der Entscheidung des BVerfG festgesetzt werden, etwa infolge von Betriebsprüfungen für Zeiträume vor 2019.
* Über die Autorin:
Susanne Christ ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Steuerrecht mit eigener Steuer- und Wirtschaftskanzlei in Köln. Sie ist langjährige Fachautorin der Haufe Mediengruppe und bei STB Web sowie Dozentin in den Bereichen Einkommen-, Umsatz- und Erbschaftssteuer. Außerdem ist sie Mitautorin des Kommentars „Nachfolgebesteuerung“ (Schmid, Hrsg.), der 2019 im Nomos Verlag erschienen ist. E-Mail: s.christ@netcologne.de
Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 26.08.2021, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.