23.02.2023 | Debatte

»Bei den Beratenden herrscht dasselbe Ungleichgewicht wie im Gesamtsystem«

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Von Alexandra Buba / Interview mit Christoph Trautvetter

Steuerpolitik hat eine Menge mit Demokratie, Entfaltung und weit verbreitetem Wohlstand zu tun. Weil die Zusammenhänge aber komplex sind, fällt der Blick aufs große Ganze manchmal schwer – auch Steuerfachleuten in Beratung und Verwaltung, die tief im Detail stecken. In Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit freilich, ist ein schärferer Blick geboten. Dieser Blick erlaubt zum Beispiel das Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2023 des Netzwerk Steuergerechtigkeit.

Foto: © iStock.com/elenabs

STB Web:
Herr Trautvetter, wir hören und lesen viel vom Schrumpfen der Mittelschicht in Deutschland - inwieweit hat Steuerpolitik damit zu tun?

Christoph Trautvetter:
Als Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck unlängst in einem Interview gefragt wurde, was er von einem Pro-Kopf-CO2-Budget hielte, antwortete er, das sei nicht nur unpraktikabel, sondern für solche Zwecke hätten demokratische Gesellschaften Steuern erfunden. Genau das trifft es: Wir haben mit der Besteuerung ein seit 100 Jahren gewachsenes System, um Verhalten und Verteilung zu steuern.

STB Web:
Doch dieses setzt der Staat schon seit zwei Jahrzehnten gemäß den Analysen Ihrer Organisation nicht zum Wohl des Gemeinwesens ein...

Christoph Trautvetter
Foto: Christoph Trautvetter, Netzwerk Steuergerechtigkeit

Christoph Trautvetter:
Tatsächlich gibt es einen radikalen Wandel in der deutschen Gesellschaft seit der Nachkriegszeit, in der Sie zumindest als westdeutscher Mann durch Ihre eigene Arbeit vergleichsweise leicht zu Wohlstand gelangen konnten. Dieses Aufstiegsversprechen funktioniert heute nicht mehr; für viele ist es insbesondere in den Ballungsräumen trotz Arbeit zum Beispiel nicht mehr möglich, Wohneigentum zu erwerben.

Die Steuerpolitik hat diese Entwicklung verstärkt, beginnend im Jahr 1997, mit der Aussetzung der Vermögenssteuer, der Senkung des Spitzensteuersatzes, die durch die Erhöhung der Umsatzsteuer finanziert wurden, bis hin zur letzten Erbschafsteuerreform 2016, die nach unserer Beurteilung dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 2014, nämlich die unbegrenzte Steuerbefreiung für große Erbschaften zu beenden, nicht gerecht wird.

STB Web:
Durch die Gesetzesänderungen, die Sie beschreiben, wurden stets die Inhaberinnen und Inhaber großer Vermögen und großer Vermögenseinkommen begünstigt - lässt sich das auch beziffern?

Christoph Trautvetter:
Wir haben das für die Erbschaft- respektive Schenkungssteuer einmal ausgerechnet: Demnach profitierten in den Jahren 2012 bis 2021 knapp 3.000 Personen von quasi steuerfreien Schenkungen, dem Staat gingen dadurch rund 75 Milliarden Einnahmen verloren. Das bedeutet nichts anders, als dass jeder Einwohner dieses Landes 1.000 Euro beigesteuert hat.

Auch eine interessante Zahl: Während das deutsche Durchschnittsehepaar eine Steuern- und Abgabenquote von 43 Prozent - bei Alleinstehenden liegt sie bei 48 Prozent - trägt, liegt diese bei typischen Multimillionären nur bei 24 Prozent, was daran liegt, dass wir Arbeit viel höher besteuern als Kapitaleinkünfte und Immobiliengeschäfte und dass Kapitaleinkünfte von Sozialabgaben befreit sind. Deutschland ist ein Niedrigsteuerland für Leute mit großem Vermögen und sehr hohen Einkommen.

Ich nenne das jetzt mal flapsig die 'Lobby des Großen Geldes'.

STB Web:
Die Erzählung geht aber anders: Ständig ist vom Hochsteuerland die Rede, das Unternehmen um die Existenz fürchten macht, Omas Häuschen weg besteuert und Millionäre in die Flucht schlägt. Wieso dominiert es dieses Bild?

Christoph Trautvetter:
Ich nenne das jetzt mal flapsig die 'Lobby des Großen Geldes'. Diese sorgt mit Millionenbudgets seit Jahrzehnten dafür, dass sich zwei Mythen in der Bevölkerung festgesetzt haben. Das gilt sowohl für die breite Mehrheit, aber auch für etliche in politischer Verantwortung und in den Medienhäusern tätigen. Der erste Mythos ist der von der Verschwendung durch den Staat, der schon genug Geld hätte, wenn er sorgsam damit umgehen würde.

Der zweite ist der vom Hochsteuerland Deutschland, der durch die Fokussierung auf die Einkommensteuer genährt wird. Beides glauben die meisten, die wenigsten wissen um die Steuerbefreiungsmöglichkeiten bei Mieteinnahmen, die Regelungen bei Kapitaleinkünften, und kaum jemand regt Cum-Ex auf, ganz einfach, weil die Leute es nicht verstehen. Wir stellen in Fokus-Gruppen immer wieder fest, wie tief diese Überzeugungen sitzen und wie schier unmöglich es ist, sie mit Fakten zu korrigieren.

STB Web:
Wer trägt dafür die Verantwortung?

Christoph Trautvetter:
Nun, es gibt einige Gruppen in diesem Land, aber auch international, denn der Wettbewerb der sinkenden Besteuerung Vermögender ist mit Ausnahme Südamerikas weltweit im Gange wie es etwa Oxfam regelmäßig analysiert. In Deutschland zählen zur Lobby des Großen Geldes vor allem die Stiftung Familienunternehmen, der Bund der Steuerzahler und die Unternehmerverbände.

Sie agieren auf mehreren Ebenen: Neben direkter Lobbyarbeit in Berlin geben sie zu PR-Zwecken Auftragsgutachten etwa beim ZEW, Ifo-Institut oder Lehrstühlen in Auftrag, die dann wiederum leider meistens unkommentiert von den Medien übernommen werden. Auf indirekter Ebene bestimmen ihre Mitglieder als Auftraggeber der großen WP-Gesellschaften gemeinsam mit den großen internationalen Konzernen maßgeblich die Diskussionen etwa bei der OECD, die sehr technisch geführt werden.

Eine Mehrheit hat aufgrund der Mandantenstruktur nicht das große Gestaltungspotenzial.

STB Web:
Wo sehen Sie die Steuerberaterinnen und Steuerberater generell in diesem Spannungsfeld?

Christoph Trautvetter:
Bei den Beratenden herrscht dasselbe Ungleichgewicht wie im Gesamtsystem: Es gibt einige wenige aggressive Gestalter, die dafür gesorgt haben, dass die Finanzbehörden mit einem massiven Aufbau von Bürokratie und Kontrolle die Arbeit für alle erschwert haben. Eine Mehrheit hat aufgrund der Mandantenstruktur nicht das große Gestaltungspotenzial, steht aber eben massiv unter Druck durch etwa die Coronaregelungen und ihre Abwicklung.

Wir haben inzwischen eine große Zahl von Steuerberatenden im Netzwerk, die sagen, das System ist ungerecht. Auf der anderen Seite steht die selbsternannte Elite der Steuercommunity, die sehr, sehr Hochbezahlten, die den Staat etwa mit Cum-Ex jahrelang um Milliarden bestohlen haben, illegal und asozial, und die mit Alphatrading und Cum-cum schon wieder ähnliche Modelle fahren.

STB Web:
Doch Sie sagen auch, die Steuerhinterzieher und -Flüchtigen seien nicht das eigentliche Problem...

Christoph Trautvetter:
Ein Problem sind sie schon, aber nicht das einzige und auch nicht das größte für eine gerechte Besteuerung. Man schätzt, dass dem Staat durch Steuerhinterziehung pro Jahr etwa 100 Milliarden verloren gehen. Das ist etwa genauso viel wie durch die Steuerprivilegien für große Vermögen und hohe Einkommen. Der große Unterschied ist: Steuerhinterziehung wird bereits bekämpft und selbst mit unendlich hohem Aufwand lässt sich Kriminalität nicht ganz beseitigen. Die Steuerprivilegien ließen sich mit Gesetzesänderungen vergleichsweise einfach beseitigen.

Aus rein wissenschaftlicher Sicht gibt es nur anekdotische und kaum systematische Belege für Kapitalflucht.

Das soll nicht heißen, dass wir Steuerhinterziehung nicht noch besser bekämpfen müssen. Aber Steuerhinterziehung und Steuerflucht werden viel zu oft als Alternative oder sogar Gegenargument gegen den Abbau von Steuerprivilegien missbraucht. Wir brauchen aber beides. Aus rein wissenschaftlicher Sicht gibt es nur anekdotische und kaum systematische Belege für Kapitalflucht. Und am Ende ist das auch klar: Wenn der Staat wirklich will, kann er dagegen vorgehen. Weil die Gewinne am Ende hier erwirtschaftet werden und hier auch investiert werden müssen sitzt Deutschland im Kampf mit den kleinen Steueroasen wie Dubai oder den britischen Jungferninseln eindeutig am längeren Hebel.

STB Web:
Was sollte Politik Ihrer Meinung nach überparteilich als verbindliches Ziel im Hinblick auf die Steuerpolitik definieren?

Christoph Trautvetter:
Bundesfinanzminister Linder hat gesagt, ein gerechtes Steuersystem sei ihm ein Herzensanliegen – und wir hätten ein solches. Denn jenes, das heute existiert, sei das Ergebnis demokratischer Verhandlungsprozesse. Das ist freilich mitnichten der Fall: Es wurde nicht demokratisch diskutiert, sondern das Steuersystem ist stark von Lobbyinteressen geprägt worden. Von daher bräuchten wir tatsächlich eine informierte Debatte darüber, wie ein Steuersystem aussehen sollte, ob wir zum Beispiel tatsächlich Arbeit im Vergleich zu Kapital so stark besteuern sollten. Ich bin mir sicher, dass dabei selbst CDU- und FDP-Wählerinnen definitiv eine geringere Ungleichheit und mehr Leistungsgerechtigkeit als wünschenswert empfänden.

...vor allem die absurde Situation, dass 3 Wohnungen steuerpflichtig sind, ab 300 Wohnungen aber die Steuerbefreiung greift.

STB Web:
Welche konkreten Reform-Erfordernisse lassen sich daraus ableiten?

Christoph Trautvetter:
Reformbedarf und gleichzeitig eine realistische Chance auf Umsetzung sehe ich beim Thema Zinshöhenschranke, weil dies im Koalitionsvertrag verankert und bereits auf den Weg gebracht ist. Auch die Umsetzung der internationalen Mindeststeuer mit möglichst wenig Lücken wäre notwendig und möglich. Weiteres wichtiges Thema für uns ist die Erbschaftsteuer, vor allem die absurde Situation, dass 3 Wohnungen steuerpflichtig sind, ab 300 Wohnungen aber die Steuerbefreiung greift. Wenn Bayern 2023 wegen Omas Häuschen gegen die Höhe der Freibeträge klagt, sollte auch über diese absurde Befreiung am oberen Ende diskutiert werden. Um die starke Konzentration von Vermögen in den Händen weniger Familien zu verlangsamen müssen wir auch über die Wiedereinführung einer Vermögensteuer reden, diese Debatte werden wir vermutlich aber erst dann führen, wenn wegen hoher Schulden, steigender Zinsen und großer Zukunftsinvestitionen wieder über Haushaltskürzungen diskutiert werden muss und sich zeigt, dass es das große „Umschichtungspotenzial“ im Haushalt gar nicht gibt.

 

Das Netzwerk Steuergerechtigkeit

Der Verein zur Förderung der Steuergerechtigkeit e. V. (www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de) als Trägerverein des Netzwerk Steuergerechtigkeit engagiert sich für eine am Gemeinwohl orientierte Steuer- und Finanzpolitik. Im Netzwerk arbeiten Gewerkschaften, kirchliche und entwicklungspolitische Organisationen, soziale Bewegungen, Umwelt- und Menschenrechtsverbände, wissenschaftliche Institutionen und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen sowie aktive Einzelpersonen zusammen.

Zur Person

Christoph TrautvetterChristoph Trautvetter, der in der Geschäftstelle des Vereins tätig ist, hat unter anderem als forensischer Sonderprüfer für die KPMG AG, im Haushaltausschuss des Europaparlaments und als Fellow bei Teach First Deutschland gearbeitet. Im Netzwerk beschäftigt er sich insbesondere mit den Themenbereichen Geldwäsche und Unternehmenssteuern.

Alexandra BubaDas Gespräch führte Alexandra Buba. Sie ist freie Journalistin und spezialisiert auf die Themen der Steuerberatungsbranche (www.medientext.com) und schreibt regelmäßig für die STB Web-Redaktion.

 


Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 23.02.2023, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.