25.11.2015 | Steuerrecht

Zankapfel Verspätungszuschlag - Ein Kommentar

Von Susanne Christ, Rechtsanwältin/Fachanwältin für Steuerrecht, Köln *

Im Zusammenhang mit der verspäteten Abgabe von Steuererklärungen kommt es immer wieder zu Streitigkeiten mit der Finanzverwaltung über die Höhe des festgesetzten Verspätungszuschlags. Nach Meinung des BFH übt die Rechtsbehelfsstelle ein eigenständiges Ermessen aus, das unabhängig von der Ermessensentscheidung des Veranlagungsbezirks ist. Diese Auffassung ist verfassungsrechtlich problematisch.

Aufgrund des der Finanzverwaltung obliegenden Ermessensspielraums kommt es in der Praxis häufig zu Streitigkeiten über die Höhe des Verspätungszuschlags. (Foto: 106313 / photocase.de)

Wird eine Steuererklärung verspätet abgegeben, kann das Finanzamt einen Verspätungszuschlag in Höhe von höchstens 10 Prozent der festgesetzten Steuer, höchstens 25.000 EUR festsetzen. Bei der Festsetzung des Verspätungszuschlags handelt es sich um eine Ermessensentscheidung; die tatsächliche Höhe des Zuschlags bemisst sich an folgenden Kriterien:

  • Dauer der Verspätung bzw. Fristüberschreitung
  • Höhe der festgesetzten Steuer
  • die aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile
  • das Verschulden
  • Höhe der Abschlusszahlung
  • wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
  • Häufigkeit der verspäteten Abgabe in den Vorjahren

Aufgrund des der Finanzverwaltung obliegenden Ermessensspielraums sind Rechtsbehelfe gegen die Festsetzung von Verspätungszuschlägen häufig nicht erfolgversprechend. Ausnahmen gelten dann, wenn die Finanzverwaltung formale Fehler macht oder der Verspätungszuschlag höher ist als die Abschlusszahlung.

Zum Sachverhalt:

In einem aktuellen Streitfall hatte eine Steuerberatungsgesellschaft, die wiederholt Steuererklärungen verspätet eingereicht hatte, die Umsatzsteuererklärung 6 Wochen zu spät eingereicht, bei einer festzusetzenden Steuer von ca. 156.000 EUR waren noch 480 EUR nachzuzahlen. Das Finanzamt setzte den Verspätungszuschlag auf 100 EUR fest. Im Rahmen des Einspruchsverfahrens wurde der Fall der Rechtsbehelfsstelle des Finanzamtes übergeben; diese kündigte an, den Verspätungszuschlag auf 1.500 EUR anzuheben, wenn der Einspruch nicht zurückgenommen würde (Verböserungsandrohung, vermeidbar durch Rücknahme des Einspruchs). Die Steuerberatungsgesellschaft weigerte sich, so dass das Finanzamt - verfahrensrechtlich zulässig - den Verspätungszuschlag auf 1.500 EUR erhöhte. Dagegen richtete sich die Klage.

Der BFH stellte sich auf den Standpunkt, dass eine Verböserung grundsätzlich zulässig sei. Er begründet dies damit, dass der Rechtsbehelfsstelle innerhalb des Finanzamtes ein eigenständiges Ermessen zustehe, so dass es trotz der Ermessensausübung durch den Veranlagungsbezirks nicht ermessensfehlerhaft sei, bei unverändertem Sachverhalt das Ermessen neu auszuüben.

Ermessen darf nicht jederzeit neu ausgeübt werden

Grundsätzlich darf ein Ermessen erst dann neu ausgeübt werden, wenn neue, bislang unbekannte Umstände hinzutreten, die bei der erstmaligen Ermessensausübung unbekannt waren. Ist das nicht der Fall, ist es grundsätzlich nicht zulässig, dass Ermessen neu auszuüben.

Beispiel: Das Unternehmen U reicht die Einkommensteuererklärung 01 nicht ein, das Finanzamt schätzt die Einkommensteuer (1. Fassung des Steuerbescheides), so dass es zu einer Einkommensteuernachzahlung von 1.000 EUR kommt. Zugleich wird Verspätungszuschlag von 100 EUR festgesetzt. U reicht daraufhin die Einkommensteuererklärung ein; durch Auflösung stiller Reserven in 01 kommt es zu einer erheblich höheren Steuerfestsetzung (2. Fassung des Steuerbescheides) und einer Steuernachzahlung von 24.000 EUR. Im Änderungsbescheid wird ausdrücklich an dem bislang festgesetzten Verspätungszuschlag von 100 EUR festgehalten. Zugleich verlangt das Finanzamt für geltend gemachte Sonderausgaben Nachweise, die nicht erbracht werden können, so dass die Einkommensteuerfestsetzung erneut geändert wird und es zu einer weiteren Steuernachzahlung von 80 EUR kommt (3. Fassung des Steuerbescheides).

In einem solchen Fall wäre es dem Veranlagungsbezirk nicht erlaubt, bei Erlass der 3. Fassung des Einkommensteuerbescheides den Verspätungszuschlag zu erhöhen, da keine wesentlichen Gesichtspunkte für eine erneute Ermessensausübung hinzugetreten sind. Anders ist es bei Erlass der zweiten Fassung des Steuerbescheides: hier kam es zu einer erheblichen Erhöhung des Nachzahlungsbetrages. Mit Erlass dieses Steuerbescheides ist auch über die Höhe des Verspätungszuschlages zu entscheiden. Kommt es bei Erlass der zweiten Fassung des Steuerbescheides zu keiner Änderung, kann bei Erlass der dritten Fassung des Einkommensteuerbescheides der Verspätungszuschlag nicht mehr erhöht werden, es sei denn, der zu beurteilende Sachverhalt hat sich wesentlich geändert.

Anders ist es nach Auffassung des BFH, wenn die Rechtsbehelfsstelle mit der Angelegenheit befasst ist. Die Rechtsbehelfsstelle wird immer dann mit dem Fall befasst, wenn der Veranlagungsbezirk nach einem Einspruch diesem nicht stattgibt.

Eigenständiges Ermessen der Rechtsbehelfsstelle verfassungsrechtlich problematisch

Nach Meinung des BFH übt die Rechtsbehelfsstelle ein eigenständiges Ermessen aus, das unabhängig von der Ermessensentscheidung des Veranlagungsbezirks ist. Diese Auffassung ist verfassungsrechtlich problematisch. Denn dadurch besteht bei jeder Ermessensentscheidung, die mit dem Einspruch angegriffen und dem nicht abgeholfen wird, die Gefahr der Verböserung. Denn durch diese Auffassung wird die Finanzverwaltung in die Lage versetzt, Steuerpflichtige, die sich gegen Ermessensentscheidungen mit dem Einspruch zur Wehr setzen, durch Verböserungsandrohung so unter Druck zu setzen, dass sie auf den grundgesetzlich garantierten Anspruch auf Rechtsschutz bei einem unabhängigen Gericht verzichten, um eine Verböserung zu vermeiden.

Die Rechtsbehelfsstelle ist keine von der Finanzverwaltung unabhängige Instanz, sie unterliegt - genauso wie die Veranlagungsbezirke - dem Direktionsrecht des Vorstehers des betreffenden Finanzamtes. Veranlagungsbezirk und Rechtsbehelfsstelle liegen dieselben Erkenntnisse vor, beide Instanzen haben Einblick darin, in welchem Maße Steuerpflichtige in der Vergangenheit Steuererklärungen verspätet eingereicht haben. Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, warum der Rechtsbehelfsstelle ein vom Veranlagungsbezirk unabhängiges Ermessen eingeräumt wird, obwohl beide Stellen desselben Finanzamtes über dieselben Erkenntnisse, die für die Ermessensentscheidung maßgebend sind, verfügen. Eine solche Verböserungsbefugnis im Rahmen von Ermessensentscheidungen dient nicht dem Rechtsfrieden. Es wird der Eindruck erweckt, dass diejenigen, die sich gegen Ermessensentscheidungen, die von der Finanzverwaltung sehr viel freier getroffen können, als die Entscheidung im Rahmen der gebundenen Verwaltung, zur Wehr setzen, noch weiter „bestraft“ werden, wenn sie auf einer Überprüfung des Falls durch ein von der Verwaltung unabhängiges Gericht bestehen.

Verspätungszuschlag darf Nachzahlungsbetrag in der Regel nicht übersteigen

Unterstützung seitens des BFH kam für die Kläger aber von einer ganz anderen Richtung: Da die Nachzahlung lediglich 480 EUR betrug, hatte der BFH Zweifel, ob die Festsetzung eines erheblich höheren Verspätungszuschlags ermessensgerecht ist. Da er selbst das Ermessen nicht ausüben darf, hat er die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

Praxishinweis: Auch wenn es sehr ärgerlich ist, dass der BFH eine Verböserung von Ermessensentscheidungen im Rechtsbehelfsverfahren für zulässig ansieht; die Kläger wären gut beraten gewesen, wenn sie den Einspruch - spätestens nach der Verböserungsandrohung - zurückgenommen hätten. Denn wenn keine formalen Fehler gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags erkennbar sind, und der Verspätungszuschlag erheblich niedriger ist, als die nachzuzahlende Steuer, ist ein Klageverfahren in der Regel nicht erfolgversprechend. Denn ein Klageverfahren hat in der Regel bei Ermessensentscheidungen nur Aussicht auf Erfolg, wenn der Verwaltung ein Ermessensfehlgebrauch vorgeworfen werden kann. Das ist eher selten der Fall.

Dass das Ermessen im Einzelfall auch anders hätte ausgeübt werden können, berechtigt die Gerichte nicht zu dazu, ihre Entscheidung an die Stelle der Verwaltung zu setzen. Das ist Ausfluss der Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Rechtsprechung. Und genau deshalb ist die vom BFH vertretene oben dargestellte Auffassung, im Rechtsbehelfsverfahren bei einer Ermessensausübung verbösern zu dürfen, wenn der Einspruch nicht zurückgenommen wird, sehr bedenklich. Denn dadurch wird die Möglichkeit, die rechtsprechende Gewalt den Fall beurteilen zu lassen, beschnitten. Gründe, die diese Einschränkung rechtfertigen, sind nicht ersichtlich.

 

* Über die Autorin:

Susanne Christ ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Steuerrecht. Sie führt eine eigene Steuer- und Wirtschaftskanzlei in Köln und ist die Sprecherin des Erbrechtsausschusses des Kölner Anwaltsvereins. Susanne Christ ist langjährige Fachautorin der Haufe Mediengruppe und Dozentin in den Bereichen Einkommen-, Umsatz- und Erbschaftssteuer. Sie schreibt auch regelmäßig Fachartikel und Kommentare bei STB Web. 

E-Mail: s.christ@netcologne.de

 

Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 25.11.2015, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.