21.03.2012 | Postwachstumsökonomie

Vom grünen Wachstumsdogma zum menschlichen Maß

Von Niko Paech *

Wer heute noch Wachstum propagiert, muss an mindestens zwei Wunder glauben, nämlich an die technische Entkopplung des Wohlstandes von knappen Ressourcen und von ökologischen Schäden. Hinter dieser Idee eines „grünen“ Wachstums verbirgt sich nicht nur eine unfassbare Realitätsferne, sondern auch ein moralisches Problem.

(Foto: Jamie Grill / Getty Images)

Wie können wir das Schicksal der Menschheit allen Ernstes zum Spielball von Fortschrittswellen machen, die noch gar nicht eingetreten sind und von denen sich nicht beweisen lässt, dass sie je eintreten werden, geschweige denn die benötigten Problemlösungen zu liefern imstande sind, statt sich am Ende womöglich nur als Verschlimmbesserung zu entpuppen? Viele der vermeintlich nachhaltige(re)n Versorgungsstrukturen und Produkte verursachen systematisch mehr Schäden als sie vermeiden. Obendrein lösen Ökologisierungs- und Effizienzfortschritte systematisch Nachfragesteigerungen aus, die den Entlastungseffekt überkompensieren.


Willkommen im Zeitalter der moralischen Kompensation!

Niko Paech
Niko Paech: "Es existieren keine per se nachhaltigen Produkte und Technologien, sondern nur nachhaltige Lebensstile."

Die Konsequenzen dieser Einsicht reichen weiter, als manche derjenigen erahnen, die jetzt eiligst auf den wachstumskritischen Zug aufspringen: Insoweit die Entkopplungslogik scheitert, existieren keine per se nachhaltigen Produkte und Technologien, sondern nur nachhaltige Lebensstile. Was nützt es, ein Passivhaus zu bewohnen, Ökostrom zu beziehen, Bionade zu trinken etc., wenn derlei Dinge erstens das Resultat zusätzlicher Produktion sind und zweitens über das hinweg täuschen (sollen), was dasselbe Individuum ansonsten praktiziert? Der Flugverkehr erzielt von Jahr zu Jahr neue Rekorde. Der Bionade- und Ökostromumsatz wohl auch. Willkommen im Zeitalter der moralischen Kompensation! Nachhaltigkeit lässt sich indes nur auf Basis individueller Ökobilanzen bemessen. Jede Nachhaltigkeitskommunikation und -politik, die sich daran vorbei mogelt, ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich: Sie zementiert die  Heuchelei einer Gesellschaft, deren Nachhaltigkeitsziele nie lauter bekundet wurden und deren Lebensstile sich nie weiter davon entfernt haben.


Der Mythos vom Effizienzfortschritt

Die enormen Steigerungen des materiellen Wohlstandes seit Beginn der Industrialisierung beruhen allein auf ökologischer Plünderung. Der Mythos vom Effizienzfortschritt oder anderen Ausprägungen menschlicher Schaffenskraft, mit denen das Wachstum an Gütern, Mobilität und Komfort angeblich „erarbeitet“ wurde oder als „Verdienst“ für eigene Leistungen zu legitimieren wäre, sind abstrus. Technische Innovationen und neues Wissen mögen die Wohlstandsentwicklung entscheidend geprägt haben. Aber bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieser „Fortschritt“ lediglich als effektiver Hebel, der dazu befähigt, sich mit minimalem eigenem physischem Einsatz ein zunehmendes Quantum an physischen Leistungen anzueignen. Dieses wachsende Missverhältnis spiegelt eine dreifache Entgrenzung materieller Ansprüche wieder, nämlich zum einen von den eigenen körperlichen Fähigkeiten (mit Hilfe ganzer Heerscharen von Energiesklaven), von den in unmittelbarer Reichweite vorhandenen Ressourcen (mit Hilfe globaler Wertschöpfungsketten) und von den Möglichkeiten der Gegenwart (mit Hilfe von Verschuldung).


Rückkehr zum „menschlichen Maß“

Die logische Konsequenz bestünde in der Rückkehr zum „menschlichen Maß“ – so drückten sich Leopold Kohr und Friedrich Schumacher seinerzeit aus – als Synonym für die Einhegung körperlicher, räumlicher und zeitlicher Entgrenzung. Unausweichlich wird damit die Frage, innerhalb welcher materiellen Grenzen sich individuelle Selbstverwirklichung so entfalten könnte, dass sie verantwortet werden kann. Das naheliegende Kriterium der physischen und zeitlichen Übertragbarkeit eines Lebensstils erinnert an den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant. Demnach dürfte jeder Mensch durchschnittlich ein Quantum an ökologischen Ressourcen verbrauchen, von dem sich sagen lässt, dass dann, wenn alle anderen Erdbewohner sich ähnlich verhalten, die irdische Tragekapazität dauerhaft erhalten werden kann. So angreifbar diese Gerechtigkeitsvorstellung auch sein mag, alle Alternativen dürften sich nur noch schwieriger begründen, geschweige denn den Menschen in Asien, Afrika oder Lateinamerika vermitteln lassen. Eine individuelle CO2-Menge von circa 2,7 Tonnen pro Jahr wäre ein erster Schritt, denn nur so ließe sich das Zwei-Grad-Klimaschutzziel bei einer Weltbevölkerung von 7 Mrd. Menschen überhaupt noch erreichen.

Die Orientierung am menschlichen Maß als Gegenmodell zu entgrenzten und somit ruinösen Daseinsformen bedeutet zugleich eine Rückkehr zur Sesshaftigkeit. Denn ein CO2-Budget von 2,7 Tonnen lässt keine großen Sprünge zu. Die überhandnehmende globale Mobilität wäre damit genauso unvereinbar wie eine Aneignung von Gütern, zu deren Erzeugung entfernt liegende Ressourcenquellen und Flächen ausgeschöpft werden. Eine ökologische Wiedereinbettung der Güterproduktion setzt nicht nur verkürzte Wertschöpfungsketten voraus (also eine geringere Distanz zwischen Verbrauch und Herstellung), sondern auch Technologien mit kürzerer Reichweite.


Abkehr von der Maximierung der Arbeitsproduktivität

Friedrich Schumacher hat den Begriff der „mittleren Technologie“ geprägt. Von Ivan Illich stammt das Konzept der „konvivialen Technologie“. Grob vereinfacht handelt es sich dabei um Hilfsmittel, welche zwar die Produktivität menschlicher Arbeitskraft erhöhen, diese aber nicht ersetzen, also vergleichsweise arbeitsintensiv sind, dafür aber umso weniger Energieträger, Fläche und Kapital benötigen. Dies ginge mit einem geringeren Grad an Spezialisierung einher, so dass anstelle von Energiesklaven – also mechanisierten, elektrifizierten, digitalisierten und automatisierten Apparaturen – mehr handwerkliche und manuelle Arbeitsleistung genutzt würde. Natürlich wären weiterhin Industrieprodukte und konventionelle Verkehrsmittel nötig, aber nur als sparsame Ergänzung, also in deutlich reduzierten Quantitäten und innerhalb materieller Grenzen. Dies entspräche einer Abkehr von der Maximierung der Arbeitsproduktivität.

Mit der durch technische Innovationen gesteigerten Arbeitsproduktivität steigt auch das mindestens erforderliche Wachstum des Bruttoinlandprodukts, welches nötig ist, um eine bestimmte Anzahl von Arbeitskräften weiterhin beschäftigen zu können. Denn es sind dann weniger Arbeitskräfte nötig, um den bisherigen Output zu produzieren. Arbeit sparender technischer Fortschritt wird also zu einem sozialen Wachstumstreiber, es sei denn, die durchschnittliche Arbeitszeit wird reduziert, so dass alle Beschäftigen statt wie bisher circa 40 nur noch 30 oder langfristig 20 Stunden arbeiten. Unter dieser Bedingung könnte dieselbe Anzahl an Arbeitnehmern auch ohne Wachstum beschäftigt bleiben.


Plünderungsfreie Versorgung

Ganz gleich, wie die beiden Auswege – Verkürzung der Arbeitszeit und Rückbau der industriellen Spezialisierung – kombiniert werden, um eine plünderungsfreie Versorgung zu gewährleisten: Art und Umfang des derzeitigen Wohlstandes ließen sich nicht aufrechterhalten. Wäre es denkbar, eine erheblich reduzierte Industrieproduktion mit arbeitsintensiven Verrichtungen so zu verknüpfen, dass kein Rückfall ins Mittelalter erfolgt, sondern technisch komplexe Güter weiter verfügbar sind? Dies könnte folgendermaßen gelingen: Handwerkliche und manuelle Tätigkeiten könnten stattdessen im Anschluss an die eigentliche Produktion dazu beitragen, dass industrielle Güter länger genutzt und ausgeschöpft werden. Mittels eigener Instandhaltungs-, Pflege- und Reparaturmaßnahmen ließe sich die Nutzungsdauer der Produkte verlängern. So könnte eine verringerte Produktionsmenge durch ergänzende handwerkliche Leistungen „gestreckt“ werden – und zwar eigenhändig von den Nutzern.


Formen produktionsloser Bedürfnisbefriedigung

Zusätzlich könnte eine verstärkte Gemeinschaftsnutzung dafür sorgen, dass eine verringerte Anzahl von Gebrauchsgegenständen die Bedarfe möglichst vieler Menschen befriedigt. Warum soll ein Rasenmäher nicht für zehn Haushalte reichen? Auch diese Art der produktionslosen Bedürfnisbefriedigung könnte von den Nutzern selbst organisiert werden, anstatt irgendeine marktförmige Dienstleistung daraus zu kreieren. Ergänzend dazu ließe sich die oben angesprochene Sesshaftigkeit als ökonomisches Konzept verankern, indem die Güterversorgung vorrangig lokal und regional erfolgt. Dies wären erste Schritte zur Rückbindung maßlos entgrenzter Bedarfe, nämlich an die eigenen Leistungen und an ein nicht beliebig vermehrbares Quantum gegenwärtig verfügbarer Ressourcen.

* Über den Autor

Dr. Niko Paech ist Volkswirt und apl. Professor für Produktion und Umwelt an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Er ist außerdem Vorsitzender der Vereinigung für Ökologische Ökonomie und Mitglied des wissenschaftlichen Beirates von attac-Deutschland. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte, zu denen er zahlreiche Publikationen veröffentlicht hat, liegen unter anderem im Bereich der Umweltökonomik, der Ökologischen Ökonomie, der Nachhaltigkeitsforschung und der Postwachstumsökonomie.


(STB Web)



Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 21.03.2012, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.