23.10.2025 | Fachbeitrag/Praxistipps
Von Bianca Traber
Kanzleien investieren in Social-Media-Kampagnen, um Talente zu gewinnen, und übersehen dabei oft das Wesentliche: Sichtbarkeit schafft keine Fachkräfte, Reichweite ersetzt keine Verfügbarkeit. Wer den Kanal mit der Quelle verwechselt, schaltet Anzeigen ins Leere. Denn die entscheidende Frage bleibt: Gibt es die gesuchten Personen mit dem gewünschten Profil überhaupt – und das in relevanter Zahl? Der Beitrag zeigt, wie das Recruiting zielführend angegangen werden kann und Streuverluste vermieden werden.
Dass über 70 Prozent der Kanzleien schon heute Schwierigkeiten haben, Fachkräfte zu finden, ist nichts Neues. Und dass sich dieses Problem verschärft, wenn die Babyboomer in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, ebenso. Viele Kanzleiinhaber wissen, dass sie spätestens jetzt etwas ändern müssen. Doch sie beginnen oft an der falschen Stelle.
In der Praxis heißt das: Es wird zuerst überlegt, wo man sichtbar ist, statt herauszufinden, woher potenzielle Kandidaten überhaupt kommen und wie man sie tatsächlich erreicht. LinkedIn, Facebook, Jobportale – das sind alles Kanäle. Aber kein Kanal kann liefern, was an der Quelle nicht vorhanden ist. Vom gewünschten Ergebnis aus zu denken, ist richtig. Aber wer dabei die Realität ignoriert, verbrennt Zeit, Geld und Energie und wundert sich später, warum nichts vorangeht.
Ein Beispiel: Eine mittelständische Kanzlei suchte einen Tax-Tech-Manager, der die Automatisierung der Kanzlei voranbringen sollte. Das Anforderungsprofil war so umfassend, dass es eher an einen Wunschzettel erinnerte als an eine realistische Stellenausschreibung. Aus Gewohnheit begann die Suche am Kanal – mit einer Anzeige und zahlreichen Postings auf LinkedIn – statt an der Quelle. Niemand hatte vorher geprüft, woher Menschen mit diesem Profil überhaupt kommen und ob es sie in ausreichender Zahl gibt. Die Ausschreibung blieb außerdem die Antwort auf zwei entscheidende Fragen schuldig: Warum sollte jemand seinen sicheren Job kündigen? Und was würde sich durch den Wechsel verbessern?
So entstehen Job-Profile, für die es in der Realität kaum eine Passung gibt, und Anzeigen, die ins Leere laufen. Nicht, weil der Kanal der falsche war, sondern weil der Ausgangspunkt fehlte: die Klarheit über die potenzielle Quelle. Das gilt für jede Art von Position, auch für Steuerfachangestellte und Steuerberater.
Wenn niemand wie gewünscht am realen Markt existiert, bringen auch reichweitenstarke Kampagnen nichts. Übrig bleiben Kosten und Frustration. Das ist kein professionelles Recruiting, das ist Hoffnungsmarketing. Und Hoffnung ist keine Strategie, schon gar nicht in einem Markt, der immer enger wird. Wer also Recruiting ernst nimmt, setzt nicht auf Zufälle, sondern auf Quellen. Und die sind tatsächlich vielfältiger, als viele glauben.
Zu den Quellen zählen etwa:
Diese Wege haben eines gemeinsam: Sie beginnen an der Quelle und schaffen neue Optionen, bevor ein Kanal ausgewählt wird.
Doch warum wird nicht längst vor jeder Ausschreibung geprüft, woher jemand realistisch kommen kann, und welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit die Rektrutierung gelingt? Die Antwort ist einfach: Die meisten Recruiting-Prozesse stammen aus Zeiten der Fülle. Damals reichte es, eine Anzeige zu veröffentlichen und Bewerbungen kamen von selbst. Diese Logik steckt bis heute in Formularen, Freigaben, Timings und in vielen Köpfen. Der entscheidende Schritt, nämlich die Analyse der aktuellen Marktverhältnisse, fehlt häufig.
Dabei ist das einfacher, als viele denken. Ein Beispiel: Eine Kanzlei im ländlichen Raum sucht eine Steuerfachangestellte. Intern sind alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die Prozesse digitalisiert, Nachwuchs ist in Ausbildung, Kooperationen bestehen. Woher also soll die neue Mitarbeitende kommen?
Wenn der freie Markt schon leergefegt ist und keine Zeit für Nachqualifizierung oder Umorganisation bleibt, führt kein Weg mehr an einer Quelle vorbei: den Kollegen aus dem näheren Umfeld. Man könnte jetzt einen Social-Media-Funnel bauen und täglich posten, um sie zu erreichen – doch das wäre Hoffnungsmarketing.
Oder man recherchiert und erstellt eine Liste mit allen Kanzleien im Umkreis von 20 bis 30 Kilometern zusammen, die als mögliche "Abwerbepartner" infrage kommen. So wird geprüft, wie viele potenzielle Steuerfachangestellte dort arbeiten. Wenn die Zahlen über die Website nicht einsehbar sind, reicht eine Schätzung. Das Ergebnis ist eine Übersicht über das tatsächlich verfügbare Marktpotenzial zum konkreten Bedarf. Dies ist die Basis für weitere Maßnahmen und die Auswahl geeigneter Kanäle, um das Potenzial zu heben.
Statt nach Bauchgefühl zu agieren, muss die Realität auf Basis von Angebot und Nachfrage analysiert werden. In der Praxis zeigt sich meist schnell, dass das theoretische Potenzial dabei noch deutlich schrumpft. Wechselwillig sind zwar viele, in der Regel sind jedoch nur 30 bis 35 Prozent bereit, einen Wechsel auch durchzuziehen. Manch Social-Media-Agentur kalkuliert mit bis zu 80 Prozent. Das klingt gut, ist aber Wunschdenken.
Diese einfache Rechnung bringt sofort Klarheit und zeigt, ob sich eine Kampagne lohnt, ob ein Profil angepasst werden muss oder ob es schlicht zu wenig verfügbare Personen im Markt gibt. Kurz gesagt: Erst wenn man den Markt gelesen hat, kann man ihn beeinflussen.
Zahlen zeigen, ob der Markt grundsätzlich Potenzial bietet. Doch sie sagen nichts darüber, warum jemand tatsächlich wechseln würde. Und genau das ist der zweite entscheidende Hebel. Menschen verlassen selten einen Arbeitsplatz, weil sie ein paar Euro mehr verdienen können. Sie wechseln, wenn sie glauben, dass sich dadurch ihr Alltag verbessert, etwa weil sie durch den Wechsel mehr Gestaltungsspielraum, weniger Stress oder schlicht mehr Anerkennung erfahren wollen.
Für Kanzleiinhaber heißt das: Bevor sie über Kanäle und Kampagnen nachdenken, sollten sie wissen, welche Motive im Spiel sind – und welche sie glaubwürdig bedienen können und wollen.
Typische Motive betreffen zum Beispiel folgende Bereiche:
Die Berücksichtigung dieser Motive sind kein weiches Thema, sondern ein klarer Wettbewerbsfaktor. Denn wer sie versteht, kann sie im Recruiting gezielt und glaubwürdig ansprechen: Echte Einblicke ins Team, die Definition klarer Verantwortlichkeiten oder das Angebot flexibler Arbeitsmodelle zeigen, dass die Kanzlei verstanden hat, was Menschen wirklich suchen.
Diese Vorgehensweise ist kein "Trick", sondern betriebswirtschaftlich fundiertes Recruiting: Erst prüfen, was der Markt hergibt, dann das Angebot anpassen und entscheiden, wo sich Investitionen lohnen. So wird Recruiting zum bewussten, steuerbaren Prozess.
Wer die Quelle kennt, also weiß, woher potenzielle Kandidaten kommen und versteht, warum sie wechseln würden, kann gezielter investieren. Das spart teure Experimente und gibt Sicherheit. In der Praxis bedeutet das: Statt Kanäle wahllos zu bespielen, wird präzise entschieden, wo und wie die Zielgruppe erreichbar ist.
Unsere Kanzlei aus dem ländlichen Raum weiß jetzt:
Mit diesem Wissen kann sie gezielt vorgehen und folgende Möglichkeiten nutzen:
Das Entscheidende: Die Kanzlei muss nicht mehr blind investieren und hoffen, dass sie jemanden trifft, sondern trifft, weil sie gezielt investiert. Recruiting wird so vom Zufall befreit und bewusst gesteuert.
Solange der Blick nur auf Kanälen und Sichtbarkeit liegt, bleibt Personalgewinnung abhängig von Zufallstreffern und Glück. Doch wer die Quelle kennt und versteht, wo potenzielle Kandidaten herkommen und wie sie entstehen – ob durch Ausbildung, Weiterbildung, Wechsel oder Kooperation – gewinnt Kontrolle zurück, statt nur zu reagieren. So entsteht aus Mangel plötzlich eine Landkarte voller Möglichkeiten. Und aus Unsicherheit ein Plan.
Autorin:
Bianca Traber ist Organisations- und Personalberaterin sowie Inhaberin des Consulting-Unternehmens DIE MEHRWERTFABRIK (diemehrwertfabrik.de). Sie berät Industrieunternehmen und Kanzleien. Kontakt auf LinkedIn