23.10.2025 | Interview

»Veränderung verlangt Gelassenheit – nicht Kontrolle«

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Von Manuel Maurer / Interview mit StB Matthias Winkler

Zwischen KI-Hype, Private-Equity-Druck und Regulatorik: Die Steuerbranche steht unter erheblichem Veränderungsdruck. Warum Gelassenheit und Lernbereitschaft oft die besseren Antworten sind als Panik und Widerstand gegenüber Veränderung, erläutert Steuerberater Matthias Winkler im Gespräch. Als langjähriger Partner einer mittelständischen Steuerberatungsgesellschaft wagte er mit seinem Team Anfang 2024 den Anschluss an die Next-Six-Gesellschaft Baker Tilly.

StB Matthias Winkler, Baker Tilly
Foto: © StB Matthias Winkler, Baker Tilly

Manuel Maurer:
Herr Winkler, Sie haben sich Anfang 2024 mit Ihrer mittelständischen Steuerberatungsgesellschaft WW+KN mit zehn Berufsträger:innen und rund 40 Mitarbeitenden Baker Tilly angeschlossen, einer der führenden multidisziplinären Beratungsgesellschaften in Deutschland und weltweit. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?

Matthias Winkler:
Der Anschluss einer mittelständischen Kanzlei an eine Next-Six-Gesellschaft ist sicher ungewöhnlich, beruhte in unserem Fall aber auf unserer speziellen Mandantenstruktur. Ein Großteil unserer Kolleginnen und Kollegen hat einen Big-Four-Hintergrund, und entsprechend war auch unsere Mandantenstruktur geprägt: Rund 60 Prozent internationale Gesellschaften mit Aktivitäten in Deutschland, etwa 40 Prozent mittelständische Unternehmen, Family Offices und Unternehmerfamilien.

Manuel Maurer:
Das war doch eigentlich ideal für Ihre mittelständische Ausrichtung...

Matthias Winkler:
Anfangs ja, doch in den letzten Jahren sind die Anforderungen in diesem Umfeld deutlich gestiegen. Immer öfter wurden wir gefragt: "Könnt ihr das auch?" – etwa bei Themen wie IFRS- oder US-GAAP, Konsolidierungen, Transfer Pricing oder internationalen Steuerfragen. Zugleich kamen von Mandantenseite immer mehr Anforderungen, die wir als reine Steuerberatungsgesellschaft nicht abdecken konnten, etwa im Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht, bei Prüfungsleistungen oder M&A-Themen. Damit stellte sich zunehmend die Frage, ob wir mit unserer Kanzleigröße und fachlichen Ausrichtung noch der richtige Partner sein konnten.

Die Überführung in eine deutlich größere Einheit ist natürlich eine Herausforderung.

Manuel Maurer:
Wäre da nicht ein interdisziplinäres Netzwerk naheliegender gewesen als die Next-Six-Umgebung?

Matthias Winkler:
Wir mussten bereits zunehmend auf externe Kooperationspartner zurückgreifen, deren Reaktionsgeschwindigkeit und Qualität aber nicht immer konsistent waren. Um keine Mandatsverluste zu riskieren und unseren Mandanten dauerhaft die nötige Sicherheit zu geben, haben wir uns für den Anschluss an Baker Tilly entschieden – und bewusst gegen eine Fusion mit einer anderen mittelständischen Kanzlei.

Manuel Maurer:
Wie verlief das "Onboarding" der ganzen Organisation?

Matthias Winkler:
Die Überführung in eine deutlich größere Einheit ist natürlich eine Herausforderung. Deshalb haben wir einen zweijährigen Übergangszeitraum vereinbart: Seit Anfang 2024 treten wir bereits unter der Marke Baker Tilly auf, blieben aber zunächst als eigenständige Tochtergesellschaft mit unseren Strukturen organisiert. Schrittweise haben wir uns angepasst – etwa durch die Nutzung des Recruitings und der Academy von Baker Tilly. 

Manuel Maurer:
Und wie kamen Ihre Mitarbeitenden und die Mandantschaft damit zurecht, gab es keinen Widerstand?

Matthias Winkler:
Von unseren Mitarbeitenden wurde der Schritt überwiegend sehr positiv aufgenommen, weil sich neue Entwicklungsmöglichkeiten und ein breiteres Spektrum eröffnet haben. Internationale Mandanten sahen die Veränderung als logischen Schritt, während regionale Mittelständler zunächst vereinzelt Bedenken hatten, ob die persönliche Betreuung leiden könnte. Insgesamt überwiegt jedoch die Wahrnehmung, dass wir unsere Leistungsfähigkeit und Zukunftssicherheit gestärkt haben.

Für uns als Führungskräfte heißt das: transparent kommunizieren und immer wieder deutlich machen, dass einzelne Schritte vor allem Chancen eröffnen.

Manuel Maurer:
Was waren denn die größten Herausforderungen?

Matthias Winkler:
Eine zentrale Herausforderung liegt in der Umstellung unserer internen Verwaltung. Wir wechseln zum Jahreswechsel von unserer bisherigen Eigenverwaltung auf DATEV hin zum konzernweiten SAP-System von Baker Tilly. Das betrifft alltägliche Prozesse wie Leistungs- und Stundenerfassung, Stammdatenpflege oder Abrechnung. Solche Umstellungen bedeuten Schulungsaufwand und sind für alle Beteiligten ein Kraftakt.

Eine weitere Herausforderung ist der Umgang mit den unvermeidlichen Unsicherheiten, die Veränderungen immer mit sich bringen. Das ist kein Thema, das nach einigen Monaten erledigt wäre – auch nach fast zwei Jahren werden wir regelmäßig mit Fragen von Mitarbeitenden und Mandanten konfrontiert. Für uns als Führungskräfte heißt das: transparent kommunizieren und immer wieder deutlich machen, dass einzelne Schritte vor allem Chancen eröffnen.

Manuel Maurer:
Weht einem nicht ein ganz anderer Wind um die Ohren in einem so großen und stark wachstumsorientierten Unternehmensverbund?

Matthias Winkler:
Nein, das empfinde ich nicht so. Natürlich ist die Arbeitsweise in einer größeren Einheit anders – strukturierter, stärker vernetzt und strategischer ausgerichtet. Für uns überwiegen dabei klar die Vorteile: Wir profitieren von zusätzlichen Ressourcen, fachlichem Austausch und neuen Entwicklungsmöglichkeiten, ohne unsere mittelständische Prägung im Team und Entscheidungsfreiheit vor Ort zu verlieren.

Schon als mittelständische Kanzlei konnten wir über viele Jahre zweistellig wachsen. Mit Baker Tilly haben wir diesen Kurs 2024 trotz Integrationsaufwand fortgesetzt und rechnen im laufenden Jahr für unser Team mit einem Wachstum von über 20 Prozent.

Manuel Maurer:
Apropos Wachstum. Derzeit ist der Eintritt von Private-Equity-Unternehmen in den Steuerberatungsmarkt ein stark diskutiertes Thema in der Branche. Viele Berufsträger:innen und Branchenvertreter:innen sehen das kritisch, insbesondere im Hinblick auf die Vereinbarkeit der Rolle als unabhängiges Organ der Rechtspflege. Ein aktueller Gesetzentwurf will ja nun gegensteuern und das Fremdbesitzverbot präzisieren. Wie stehen Sie zu dem Thema?

Matthias Winkler:
Das Thema verfolge ich wie viele in der Branche mit großem Interesse. Veränderungen bringen immer Unsicherheiten mit sich, und es ist richtig, die Fragen nach Unabhängigkeit und der Rolle des Steuerberaters als Organ der Rechtspflege ernst zu nehmen. Gleichzeitig muss man sehen: Mandanten werden größer, die Anforderungen komplexer – und mit der Integration von KI wird sich der Berufsstand ohnehin grundlegend verändern. All das erfordert Investitionen, die einzelne Kanzleien allein oft nicht mehr stemmen können.

Ein Blick ins Ausland zeigt, dass Private Equity in Märkten wie den USA, Großbritannien, den Niederlanden oder auch Skandinavien längst präsent ist. Ob Deutschland hier einen Sonderweg gehen kann, bleibt abzuwarten. Und man sollte eines nicht vergessen: Auch andere Gruppen, etwa ETL, haben sich über die Jahre an zahlreichen Kanzleien beteiligt, zentrale Strukturen aufgebaut und so die Branche verändert – weit bevor das Thema Private Equity aufkam.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Debatten schnell in Empörung umschlagen. Gerade deshalb ist es wichtig, nüchtern zu analysieren.

Manuel Maurer:
Viele sehen das nicht so gelassen. Das Thema polarisiert sehr stark...

Matthias Winkler:
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Debatten schnell in Empörung umschlagen. Gerade deshalb ist es wichtig, nüchtern zu analysieren: Private Equity wird sicher nicht die Lösung für jede Kanzlei sein – für manche kann es aber eine Chance sein, Nachfolgefragen zu lösen, Strukturen aufzubauen und notwendige Investitionen zu ermöglichen. Aus meiner Sicht ist Private Equity im Markt angekommen – entscheidend ist nun, wie der Berufsstand die Chancen nutzt und gleichzeitig Unabhängigkeit und Qualität wahrt.

Manuel Maurer:
Wohl und Wehe prägen auch die KI-Debatte. Wie disruptiv schätzen Sie die Entwicklung für die Branche ein, besonders auch für die kleineren Kanzleien im Bereich 10 bis 20 Mitarbeitende?

Matthias Winkler:
Prognosen sind da sehr schwierig – und oft kommt es ohnehin anders, als man denkt. Sicher ist aber: Teile der heutigen Aufgaben, etwa die Erstellung von Einkommensteuererklärungen, werden durch KI bald weitgehend automatisiert. Gleichzeitig entstehen neue Aufgaben rund um Datenmanagement, Kontrolle und Qualitätssicherung. So war es in jedem wirtschaftlichen Umbruch: Erst verschwinden Tätigkeiten, später entstehen neue – oft in Bereichen, die man sich anfangs noch nicht vorstellen konnte.

Manuel Maurer:
Einkommensteuererklärungen sind aber gerade für die Einzelkanzleien immer noch ein wichtiges Geschäftsfeld. Laut STAX 2024 machen sie fast 30 Prozent des Umsatzes aus und haben sogar an Bedeutung gewonnen (2018: knapp 20 Prozent)...

Matthias Winkler:
Ich denke, Steuerberater werden künftig stärker als Prozessbegleiter und unabhängige Prüfer der Ergebnisse gefragt sein. Es heißt ja so schön: "Man kann sich gar nichts so verschätzen, wie man sich verrechnen kann." – Genau deshalb wird es weiterhin Fachleute brauchen, die beurteilen und kontrollieren, was KI produziert.

Für die kleineren Kanzleien ist die Situation schon in den letzten Jahren anspruchsvoller geworden, etwa bei der Personalgewinnung. KI wird diesen Druck meiner Einschätzung nach eher verstärken. Dennoch bin ich überzeugt, dass es auch künftig spezialisierte kleinere Kanzleien geben wird – sei es in klar abgegrenzten Nischen, wie ein Kollege, der mit seiner Kanzlei auf die steuerliche und buchhalterische Betreuung von Insolvenzfällen spezialisiert ist, oder durch einzelne Berufsträger, die auf ihrem Gebiet führend sind. KI wird die Branche grundlegend verändern, aber nicht nivellieren.

Dass Beratung im Zuge der Automatisierung persönlicher wird, halte ich für fraglich.

Manuel Maurer:
Das Narrativ, auf das man sich meiner Wahrnehmung nach in der Branche verständigt hat, lautet ja, dass durch KI die klassischen Tätigkeiten perspektivisch zwar weitgehend wegfallen werden; dass sich dadurch aber ein Raum für wertorientierte und persönliche Beratung öffne. Ist das nicht ein bisschen euphemistisch? Welchen Beratungsmarkt für kleine und mittlere Kanzleien halten Sie da mittel- bis längerfristig für realistisch?

Matthias Winkler:
Ob sich das oft zitierte Narrativ wirklich so entwickeln wird, ist aus meiner Sicht durchaus zweifelhaft – wünschenswert wäre es natürlich. Insbesondere, dass Beratung im Zuge der Automatisierung persönlicher wird, halte ich für fraglich. Ein Blick auf den Bankensektor zeigt es: Online-Banking hat vieles einfacher gemacht, zugleich aber die Rolle des persönlichen Kundenberaters geschwächt. Ähnlich könnte es in der Steuerberatung kommen. Mandanten werden einfache Dinge zunehmend selbst erledigen. Gleichzeitig bin ich überzeugt: Dort, wo Spezialisierung oder persönliche Beratung echten Mehrwert bietet – etwa bei Nachfolgelösungen, Strukturierungsfragen oder internationalen Themen – wird es auch künftig einen stabilen Markt geben.

Manuel Maurer:
Durch die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung sollen ja auch Freiräume entstehen. Ein spürbarer Bürokratieabbau ist allerdings nicht in Sicht. Macht gerade Effizienzsteigerung die Systeme eher noch komplexer und bindet am Ende doch wieder die Kapazitäten, wenn auch auf andere Weise?

Effizienzsteigerung macht Systeme kurzfristig oft komplexer – mittelfristig eröffnen sich aber Freiräume.

Matthias Winkler:
Man muss schon sehen, dass Dokumentationspflichten weiter zunehmen. Es entstehen aber durchaus konkrete Entlastungen im Alltag: Was wir früher extern vergeben haben – etwa Gefährdungsbeurteilungen im Rahmen der Arbeitssicherheit – kann heute mit KI-Unterstützung in Minuten vorstrukturiert werden. Lesen, prüfen, verantworten müssen wir weiterhin; aber die Hürde sinkt deutlich.

Auch die öffentliche Hand hat ein Interesse an Digitalisierung und KI – schon wegen Demografie und Fachkräftemangel. Unterm Strich gilt: Effizienzsteigerung macht Systeme kurzfristig oft komplexer – durch neue Prozesse, Schulungen und Anforderungen an Datenqualität. Mittelfristig eröffnet sie meiner Einschätzung nach aber voraussichtlich Freiräume.

Manuel Maurer:
Vielen Dank für die umfangreichen Einblicke und Ihre Einschätzungen – das war sehr informativ und inspirierend.

Zur Person:

StB Diplom-Finanzwirt Matthias Winkler Matthias Winkler ist Diplom-Finanzwirt, Steuerberater, Fachberater für internationales Steuerrecht und Partner im Bereich Tax bei der multidisziplinären Kanzlei Baker Tilly (www.bakertilly.de) an den Standorten München und Regensburg. 
Kontakt auf LinkedIn

Manuel Maurer

Manuel Maurer ist Herausgeber und Chefredakteur von STB Web, Online-Fachmagazin für Steuerberater. Entwicklungen in der Steuerbranche zählen zu seinen Themenschwerpunkten. 
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