23.10.2025 | Fachartikel/Beratertipp
Von RAin Anne Nickert und RA/StB Cornelius Nickert
Der BGH hat Anfang des Jahres die Kriterien zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit konkretisiert. Die Entscheidung hat weitreichende Folgen für Unternehmen und deren steuerliche Berater. Der Beitrag zeigt, worauf es nun in der Praxis ankommt – und wie Berater das dadurch erhöhte Haftungsrisiko vermeiden können.
Im Zentrum des Urteils vom 23.1.2025 (Az. IX ZR 229/22) steht die Frage, ob und wie ein vorläufig vollstreckbarer Titel über eine streitige Forderung bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit eines Unternehmens nach § 17 InsO zu berücksichtigen ist. Konkret ging es darum, ob eine Geldforderung, für die ein solcher Titel vorliegt, als Zahlungspflicht im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO zu behandeln ist, wenn die Voraussetzungen für eine Vollstreckung aus dem Titel vorliegen und der Titelgläubiger die Vollstreckung eingeleitet hat.
Der BGH entschied: Ein vorläufig vollstreckbarer Titel über eine streitige Forderung ist bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit durch den Schuldner in Höhe des Nennwerts der titulierten Forderung zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen für eine Vollstreckung aus dem Titel vorliegen und der Titelgläubiger die Vollstreckung eingeleitet hat.
Damit wird die Zahlungspflicht im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO bereits durch Vorlage eines vorläufig vollstreckbaren Titels nachgewiesen, ohne dass eine materielle Prüfung der Forderung im Insolvenzverfahren vorgenommen werden müsste.
Wird aus einem Steuerbescheid vollstreckt, weil etwa ein Einspruch keine Aussetzung der Vollziehung (AdV) bewirkt hat, muss die darin festgesetzte Steuerforderung bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit vollständig berücksichtigt werden – selbst wenn über den Steuerbescheid noch im finanzgerichtlichen Verfahren gestritten wird.
Solange der vorläufig vollstreckbare Titel (hier: der Steuerbescheid mit sofortiger Vollziehbarkeit) besteht und das Finanzamt die Vollstreckung betreibt, gilt die Steuerforderung in voller Höhe als fällige Verbindlichkeit bei der Insolvenzprüfung.
Dies entspricht der gefestigten Rechtsprechung, dass die Beweiskraft eines vorläufig vollstreckbaren Steuerbescheids auch dann zum Tragen kommt, wenn das finanzgerichtliche Verfahren (z. B. Klage gegen den Bescheid) noch läuft.
Für Unternehmen kann sich hierdurch die Insolvenzreife deutlich früher einstellen, als dies bei nur strittigen oder angefochtenen Forderungen ohne Vollstreckung der Fall wäre.
Die Praxis, Einspruch einzulegen, AdV zu beantragen, aber die Begründung nachzureichen, sollte bei schwacher Liquiditätslage daher der Vergangenheit angehören.
Falls ein Corona-Schlussbescheid (beispielsweise zur Rückzahlung von Überbrückungshilfen) erlassen und daraus vollstreckt wird, sollte dieser wie ein Steuerbescheid behandelt werden, wobei vorrangig zu prüfen ist, ob die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet wurde.
Auch diese Forderungen sind bei Vollstreckung und mangels Widerspruch beziehungsweise mangels erfolgreicher AdV vollständig als Passiva bei der Liquiditätsprüfung zu berücksichtigen.
Gerade bei hohen Rückforderungen aus Corona-Hilfen besteht ein erhöhtes Risiko, dass Unternehmen unbeabsichtigt in die Insolvenzverschleppung geraten, wenn die volle Passivierung nicht erfolgt oder zu spät insolvenzantragspflichtig werden.
Steuerberater müssen Unternehmen und Mandanten frühzeitig und ausdrücklich auf die mit vollstreckten Steuer- und Verwaltungsbescheiden verbundenen Risiken hinweisen, insbesondere im Kontext der Insolvenzantragspflichten nach § 15a InsO.
Wird bei laufender Vollstreckung eine existenzbedrohliche Steuerforderung nicht (mehr) mit einer qualifizierten Begründung angefochten und keine AdV beantragt beziehungsweise gewährt, trifft den Berater ein erhöhtes Haftungsrisiko, wenn er die Mandanten nicht auf die unmittelbaren insolvenzrechtlichen Folgen aufmerksam macht oder falsch berät.
Unternehmen sollten ihre Liquiditätsplanung stets aktuell halten und potenziell titulierte Forderungen frühzeitig in die Bewertung der Zahlungsfähigkeit einbeziehen. Steuerberater sind aufgefordert, ihre Mandanten aktiv auf die Risiken von vorläufig vollstreckbaren Titeln hinzuweisen und gemeinsam mit ihnen Strategien zu entwickeln, um eine drohende Insolvenzantragspflicht rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Die Dokumentation und Nachverfolgung von Vollstreckungsmaßnahmen ist entscheidend, um Haftungsrisiken zu minimieren.
Das Urteil des BGH vom 23.1.2025 hat auch unmittelbare Auswirkungen auf steuerliche Forderungen, insbesondere auf Steuerbescheide und auf Corona-Schlussabrechnungen, sofern diese zu vollstreckbaren Ansprüchen werden.
Erstellen Sie bei Einsprüchen gegen Steuerbescheide stets umgehend einen ausreichend begründeten AdV-Antrag. Überwachen Sie den Status von Steuerbescheiden und Corona-Abrechnungen engmaschig. Sobald das Finanzamt beziehungsweise die Bewilligungsstelle auf Grundlage eines vorläufig vollstreckbaren Titels vollstreckt, ist im Rahmen der Zahlungsfähigkeitsprüfung die Forderung in voller Höhe zu passivieren. Versäumen Sie dies, drohen Haftungsrisiken – für Unternehmen wie Berater.
Über die Autoren:
Anne Nickert ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Steuerrecht. Cornelius Nickert ist Rechtsanwalt, Steuerberater, Fachanwalt für Steuer, Insolvenz- und Sanierungsrecht.
Beide sind Partner bei Nickert & Nickert RAe & StB PartG mbB Offenburg (www.nickert-og.de) und unterstützen Steuerberater bei Mandaten in der Krise, insbesondere bei rechtlichen Fragestellungen, Fortführungsprognosen und Bilanzierungsfragen (www.beratung-fuer-steuerberater-krisenmandate.de).