30.07.2025 | Interview

»In diesem Spiel ist jeder zugleich Jäger und Beute«

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Von Manuel Maurer / Interview mit Bianca Traber

Von Recruiting-Trends und taktischen Manövern bei der Fachkräftegewinnung hält die Personalberaterin Bianca Traber aus der baden-württembergischen Bodenseeregion nicht viel. Denn all diese Maßnahmen würden nur einem Zweck dienen: dem Abwerben. Am Ende wundere man sich, warum die Lohnkosten explodieren und der Engpass trotzdem bleibt. Stattdessen plädiert sie für einen anderen Ansatz.

Foto: © Bianca Traber, DIE MEHRWERTFABRIK

Manuel Maurer:
Frau Traber, Sie kennen sich gut aus in der Steuerbranche und ihren Fachkräftesorgen. Haben Sie gleich zum Einstieg DEN Recruiting-Tipp für unsere Leserschaft, was liegt denn gerade im Trend?

Bianca Traber:
Was heute als Recruiting-Trend gefeiert wird, ist meist ein Spiel, das sich im Kreis dreht. Social-Media-Funnel, TikTok-Videos, Benefit-Schlachten, schnelle Bewerbungswege – sie wirken modern. Doch wenn sie nicht auf Nachwuchsgewinnung ausgerichtet sind, dann sind sie nur eins: Abwerbemaschinen.

Manuel Maurer:
Wie das?

Bianca Traber:
In leergefegten Märkten helfen schnelle Lösungen nur beim Umverteilen. Die Maßnahmen bringen keine neuen Talente ins System. Sie verschieben nur, was längst vergeben ist. Das treibt die Kosten – nicht die Zukunft. Was viele dabei vergessen: In diesem Spiel ist jeder zugleich Jäger und Beute. Mit jeder Abwerberunde wird’s teurer und aggressiver. Viele Kanzleien sind deshalb im "Krieg um Talente" gefangen und glauben, es gäbe keinen anderen Weg.

Recruiting beginnt nicht beim Suchen, sondern beim Verstehen der Wertschöpfung.

Manuel Maurer:
Gibt es den denn?

Bianca Traber:
Ja, strategisch denken. Bevor das nächste Funnel-Budget freigegeben wird, steht doch die Frage im Raum, welche Arbeit in Zukunft noch gebraucht wird. Denn wenn sich das Geschäft verändert, verändert sich die Arbeit mit. Recruiting beginnt damit nicht beim Suchen, sondern beim Verstehen der Wertschöpfung. Wer weiß, wo im Geschäft künftig Wert entsteht, kann entscheiden, welche Arbeit noch gebraucht wird und welche Talente dafür infrage kommen. Dieses Wissen schützt übrigens nicht nur die Zukunft der Kanzlei – sondern auch die der eigenen Leute.

Manuel Maurer:
Braucht es aber in der Praxis nicht dennoch kurzfristig wirksame Aktionen, um die akuten Auftragsüberhänge abzuarbeiten?

Bianca Traber:
Doch, natürlich. Kurzfristige Maßnahmen sind nicht per se schlecht – sie lindern Symptome, lösen aber nicht das Kernproblem. Es wirkt wie Fast Food: macht schnell satt – aber auf Dauer ruiniert es die Gesundheit. Wer sich nur davon ernährt, verliert an Kraft, Leistung und zahlt einen hohen Preis. Denn im Gegensatz zu klassischen Märkten lassen sich Arbeitsmärkte nicht auf Knopfdruck wieder "auffüllen". Wer heute nur abwirbt, löst also kein Problem, sondern verschiebt es in die Zukunft.

Manuel Maurer:
Wie also löst man das Problem?

Bianca Traber:
Mit einer Recruiting-Strategie, die das große Ganze im Blick hat. Welche Arbeit braucht unser Geschäftsmodell morgen? Welche Kompetenzen, Systeme oder Partnerschaften braucht es? Und wo kann diese Arbeit in Zukunft überhaupt passieren – vor Ort oder ganz woanders? Das sind die grundlegenden Fragen, die Sie sich stellen sollten. Dann haben Sie im Kern zwei Optionen, erstens: Mit weniger Talenten mehr erreichen – also Prozesse aufräumen, automatisieren und Menschen dort einsetzen, wo ihre Stärken liegen. Zweitens: Neue Talentmärkte erschließen. Das heißt vor allem Nachwuchs ausbilden. Aber auch: International rekrutieren und Arbeit in Regionen mit hoher Talent-Verfügbarkeit auslagern.

Manuel Maurer:
Das heißt, ich muss "um die Ecke denken"?

Bianca Traber:
Das macht Sinn. Erfolgreichen Kanzleien gelingt es, Synergien zu schaffen, statt Gegensätze zu zementieren. Sie setzen auf Automatisierung und fördern menschliche Stärken. Sie verbinden Präsenzkultur mit flexiblen Arbeitsmodellen. Und sie fördern Gemeinschaft und Leistungskultur gleichermaßen. Wem das gelingt, macht sich weit weniger abhängig vom Fachkräfteangebot.

Kommt bald ein Butler, der morgens die Lieblingstasse reicht?

Manuel Maurer:
Man muss aber als Arbeitgeber doch auch Anreize bieten. Stichwort: Benefits. Sie aber kritisieren den inflationären Umgang mit den Lockangeboten...

Bianca Traber:
Weil sich viele fragen: Was soll ich denn noch alles auffahren? Kommt bald ein Butler, der morgens die Lieblingstasse reicht? Wird der rote Teppich vom Parkplatz bis zum Schreibtisch ausgerollt? Oder gibt’s zur Begrüßung eine Zuckertüte mit Snacks und Motivationssprüchen? Ja, viele Benefits sind gut gemeint – und dennoch lösen sie nicht wirklich die Probleme der Mitarbeitenden, wie auch einige Studien belegen. [1]

Manuel Maurer:
Was braucht es stattdessen?

Bianca Traber:
Gute Frage. Was ich immer wieder in der Praxis feststelle: Mitarbeiter brauchen nicht viel, dafür das Richtige. Und das gibt’s meistens sogar kostenlos. Zum Beispiel Ruhe und Klarheit: Endlich mal konzentriert arbeiten dürfen und wissen, wo man gerade steht. Fairness: Das gute Gefühl, dass es hier gerecht zugeht. Eine Perspektive, die trägt, und dass gilt, was gesagt wurde. Kurz gesagt: Echte Bindung kommt nicht von bunten Gimmicks, sondern vom Gefühl: Hier stimmt’s menschlich, fachlich und auf lange Sicht.

Manuel Maurer:
Die Rechts- und Steuerberatung ist die von Fachkräftemangel mit Abstand am stärksten betroffene Branche in Deutschland. 65 Prozent der Kanzleien sehen sich in ihrer Geschäftstätigkeit behindert. Im Sektor Unternehmensberatung sind es dagegen 19,5 Prozent. [2] Warum ist das Problem bei den Kanzleien so eklatant?

Jetzt, wo die Sonder-Aufgaben weniger werden, bringt die Demografie die Branche an ihre Belastungsgrenze.

Bianca Traber:
Weil sich hier gleich mehrere Entwicklungen überlagern: Die Zahl offener Stellen ist seit 2012 um fast +98 Prozent gestiegen. Gleichzeitig ist die Zahl der Arbeitslosen in dem Bereich um –28 Prozent gesunken. Zum Vergleich: In allen Berufen liegt das Plus nur bei +66 Prozent, der Rückgang bei –10 Prozent. Bei den Unternehmensberatern hat sich stattdessen die Arbeitslosigkeit verdoppelt [3]. Dazu kommen drei strukturelle Schwächen: Die Ausbildung deckt den Bedarf nicht mehr ab. Anders als in der Industrie wird kaum international rekrutiert. Und: Die Digitalisierung kommt nur schleppend voran.

Besonders bitter: Die Branche hat in den letzten Jahren enorme Sonderlasten gestemmt – von Corona-Hilfen bis Grundsteuer. Jetzt, wo diese Aufgaben weniger werden, bringt die Demografie die Branche an ihre Belastungsgrenze. Viele erfahrene Kräfte gehen Jahr für Jahr in Rente und der Nachwuchs reicht nicht, um das aufzufangen. Das Ergebnis: Volle Auftragsbücher, ein leergefegter Markt – und eine Recruiting-Praxis, die das Problem weiter verschärft.

Manuel Maurer:
Apropos Demografie. Sie haben sich auch die Berufsstatistik [4] genauer angesehen. Danach liegt das Durchschnittsalter bei den Steuerberatern aktuell bei 53,6 (Männer: 55,6 | Frauen: 50,6). Der Anteil der Unter-40-Jährigen liegt bei 20,5 Prozent. Deutlich mehr, 30,7 Prozent, sind über 60. Was folgt daraus aus Ihrer Sicht für die Entwicklung der Branche?

Bianca Traber:
Wenn mehr als ein Drittel der Berufsträger:innen in den nächsten zehn Jahren altersbedingt und teils ohne Nachfolge ausscheidet, verlieren wir nicht nur Köpfe. Wir verlieren: Erfahrungswissen, eingespielte Teams und stabile Mandatsstrukturen. Die Lücke lässt sich durch den nicht ausgebildeten Nachwuchs nicht ersetzen. Gleichzeitig verlässt sich die Branche zu sehr auf gesetzgeberische Schutzräume, insbesondere die Vorbehaltsaufgaben, und versäumt dadurch, ihr Geschäftsmodell aktiv weiterzuentwickeln. 

Die berufsspezifische Arbeitslosenquote im Steuerbereich unter Akademiker:innen lag 2024 bei nur 1,7 Prozent (zum Vergleich: über alle Branchen hinweg lag sie 2024 bei 6,3 Prozent) [5]. Das ist Vollbeschäftigung. Mit dem Begriff dürfte jeder etwas anfangen können. Damit wird auch klar, welche Maßnahmen zukünftig notwendig sind – allen voran Ausbildung.



Fußnoten / Quellen:

[1] Benefitsstrategien oft wenig effizient | Arbeitsumgebung: Mitarbeiter wollen ihre ­Ruhe haben

[2] KfW-ifo-Fachkräftebarometer, Mai 2025, S. 3. 

[3] Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Stand: 31.12.2023.

[4] Berufsstatistik 2024 der Bundessteuerberaterkammer, S. 10.

[5] Blickpunkt Arbeitsmarkt, April 2025, Bundesagentur für Arbeit


Zur Person:

Bianca Traber

Bianca Traber ist Organisations- und Personalberaterin sowie Inhaberin des Consulting-Unternehmens DIE MEHRWERTFABRIK (diemehrwertfabrik.de). Sie berät Industrieunternehmen und Kanzleien. Kontakt auf LinkedIn

Manuel Maurer

Manuel Maurer ist Herausgeber und Chefredakteur von STB Web, Online-Fachmagazin für Steuerberater (www.stb-web.de). Kontakt auf LinkedIn