24.09.2020 | Rezension

Selbstbegrenzung – oder: Die Krise der industriellen Gesellschaften

Teletax

"Wachstum. Der unkritische Glaube eines positiven Zusammenhangs von institutioneller Wertschöpfung und Gerechtigkeit." (Ivan Illich)

Von Dr. Martina Maierhofer

Die Corona-Krise zeigt auf, dass sich die Industrienationen in einer Wachstumskrise befinden. Nicht, weil das Wirtschaftswachstum von Unternehmen und Volkswirtschaften einbricht, sondern weil das Wachstumsdogma um jeden Preis aufrecht erhalten werden muss. Wie verzweifelt die Lage ist, zeigen Aktionen wie das Lufthansa-Rettungspaket oder jüngst der Autogipfel. Transformationsprozesse werden zwar angestoßen, jedoch getragen von der Überzeugung, Wachstum ließe sich entkoppeln von klima- und gesundheitsschädigenden Ressourcenverbräuchen und löse Verteilungsprobleme.

Vertreter*innen der Postwachstumsökonomik, einer Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften, stellen diese Annahmen kritisch in Frage und plädieren für eine sozial-ökologische Transformation der Produktions- und Versorgungssysteme als Grundlage einer Wirtschaft, die ohne Wachstum auskommt.

Ivan Illich: Selbstbegrenzung

Foto: Ivan Illich (1977), © Photo by Giorgio Lotti/Mondadori via Getty Images

Ein Vordenker wachstumskritischer Bewegungen ist der Kultur- und Zivilisationskriter Ivan Illich, dessen Hauptwerk in den 1970er Jahren erschien und das der Verlag C.H. Beck seit 1998 neu auflegt. Mit Recht, denn seine scharfsinnigen Analysen, aber auch seine Polemik, sind von ungebrochener Aktualität. So prophezeite Illich bereits vor 45 Jahren, dass die "hyperindustrialisierten Nationen gezwungenermaßen" postindustrielle Produktionsweisen "als Alternative[n] zum Chaos" wählen müssten. Mit Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik (1975), hat er denjenigen, deren Anliegen es ist, Gesellschaft anders zu denken, ein Werkzeug hinterlassen.

Faustische Dynamik

Im Kern von Illichs Botschaft steht die Kritik an einer Form von Wachstum, die die Menschen zu Opfern einer zunehmend alternativlos werdenden Wirklichkeit macht. All seinen Werken der 70er-Jahre ist die Erkenntnis gemein, dass ab einem bestimmten Punkt in der Geschichte des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts und seiner Institutionalisierung eine Grenze überschritten wurde, von der an der administrative und finanzielle Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag mehr stand und der Fortschritt selbst sich in die faustische Dynamik der Zähmung der Geister verstrickte, die er rief. Je leistungsfähiger die Maschinen und Werkzeuge, umso mehr greifen nach Illich Expertentum und Monopolbildung um sich. Man nimmt den Menschen die Möglichkeit, sich um sich selbst und um andere zu kümmern, ihre Fähigkeiten zu entdecken, sie ganzheitlich einzusetzen und dabei etwas zu lernen. Stattdessen werden sie gezwungen, Dienstleistungen einzukaufen und das dafür notwendige Geld in standardisierten Berufen zu verdienen, die selten noch etwas mit Freude oder Berufung zu tun haben. Was dem modernen Menschen noch bleibt, ist ein resignatives Sich-Fügen in seine vorbestimmte Rolle als williger Konsument vorgefertigter Produkte, seien es industriell erzeugte Waren, curricular vorgeschriebene Bildungspakete oder ein selbstzweckhaft gewordener medizinischer Leistungsapparat.

Treffsichere Analyse

Faszinierend in Selbstbegrenzung ist zum einen die Treffsicherheit der schonungslosen Analyse der Mechanismen, die die Industrienationen zu dem gemacht haben, was sie heute sind, zum anderen die Überzeugungskraft, mit der Illich Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, die uns im 21. Jahrhundert längst schon alternativlos erscheinen, weil wir sie als eben die Errungenschaften von Wohlstand und Wachstum feiern, als die sie uns verkauft werden. Illich kann uns zu der unangenehmen Erkenntnis führen, dass wir schon gar keine Fantasien mehr darüber entwickeln, ob es auch anders ginge, ob nicht auch andere Formen des Zusammenlebens und Arbeitens denkbar wären.

Dabei ist Illich keineswegs technikfeindlich oder reaktionär eingestellt. Er sieht nur die Notwendigkeit eines anderen Einsatzes der Werkzeuge, die Wissenschaft und Technik bereitstellen, und zwar mit Blick auf das Wohlergehen einer Mehrheit der Menschen und ihrer Umwelt auf diesem Planeten. Illichs Vision ist ein auf ein wirklich menschliches Maß reduzierter Umgang mit dem „Möglichen und Machbaren“, der ungeahnte Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten für jeden einzelnen schaffen könnte. Sein Werk hat insofern prophetische Qualität, als es die Verheißung eines guten Lebens für mehr Menschen birgt, wenn wir es nur schaffen, dem sogenannten Fortschritt Grenzen zu setzen.

Tools for conviviality

Eine präzise Ausarbeitung von Handlungsanweisungen sucht man bei Illich allerdings vergeblich. Er liefert uns jedoch zwei Begriffe als heuristisches Instrumentarium für eine ergebnisoffene Transformation der Gesellschaft. Diese stecken bereits im englischen Originaltitel: Tools for conviviality. Es sind zum einen die „Werkzeuge“ zum anderen die „Konvivialität“.

Ich wähle den Begriff „Konvivialität“, um das Gegenteil der industriellen Produktivität bezeichnen zu können. Er soll für den autonomen und schöpferischen zwischenmenschlichen Umgang und den Umgang von Menschen mit ihrer Umwelt als Gegensatz zu den konditionierten Reaktionen von Menschen auf Anforderungen durch andere und Anforderungen durch eine künstliche Umwelt stehen. Für mich ist Konvivialität individuelle Freiheit, die sich in persönlicher Interdependenz verwirklicht, und sie ist als solche ein immanenter ethischer Wert.

Es handelt sich also um kein geronnenes Denksystem, sondern „konvivial“ ist vielmehr ein bewegliches Adjektiv, das vielfältig anschließbar ist und dadurch offen wird für die Pluralität und das Partikulare. Die Frage, die wir uns also immer wieder stellen müssen, ist: Sind unsere Werkzeuge wirklich konvivial? Die zweite, dem noch vorausgehende Frage ist die nach den "Werkzeugen“ selbst. Was ist darunter genau zu verstehen? Illich geht von einem erweiterten Werkzeugbegriff aus:

Ich meine damit nicht nur einfache Gebrauchsgegenstände wie Bohrer, Töpfe, Spritzen, Besen, Baumaterialien, Motoren und große Maschinen wie Autos oder Kraftwerke; ich beziehe produktive Institutionen wie Fabriken mit ein, die konkrete Waren wie Cornflakes oder elektrischen Strom, aber auch produktive Systeme, die immaterielle Güter wie „Bildung“, „Gesundheit“, „Wissen“ oder „Entscheidungen“ produzieren.

 „Werkzeuge“ sind bei Illich alles vom Menschen Ersonnene, das sich von anderen Dingen, wie z.B. Grundnahrungsmitteln unterscheidet, die per se nicht der Rationalisierung unterworfen sind. Dieses „ausgeklügelte Instrumentarium“ gilt es also zu zähmen, seine Zurichtung als bloßes Mittel zum Zweck unbegrenzten Wachstums aufzuheben und es in einen vielfach ausgewogenen konvivialen Kontext einzubetten.

Marktgesteuert aufgezwungene Innovationen

Illich benennt verschiedene operative Maßnahmen, die dazu beitragen können, eine konviviale Gesellschaft aufzubauen. Dazu gehört zuallererst die Entprofessionalisierung breiter Lebens- und Arbeitsbereiche, die Raum schaffen kann für Kreativität und die Entfaltung von Potentialen jenseits von Abschlüssen, Diplomen und Zertifikaten. Mit Blick auf die gleichmäßige Versorgung mit Arbeit für alle sieht er außerdem eine Reduktion der Arbeitszeit geboten. Im Wissen darum, wie sehr Sprache Wirklichkeit formt, rät er uns, unsere vom Wachstumsfetisch durchdrungenen Sprachgewohnheiten zu überdenken. Er regt an, die Wissenschaft zu entmythologisieren und uns von dem Gedanken zu verabschieden, dass mehr Wissen immer auch besseres Wissen bedeutet, denn dieses Prinzip bildet die Grundlage dafür, dass der Gesellschaft mit wachsendem Tempo Innovationen aufgezwungen werden, die letztlich marktgesteuert sind.

Illich liefert durchaus konkrete Beispiele für solch konviviale Werkzeuge. Es finden sich darunter Kulturleistungen wie das Alphabet oder die Druckerpresse, die einer breiten Masse überhaupt erst das Lesen von Büchern ermöglicht haben, aber auch das Telefon in seinem elementarsten Gebrauchszweck, Menschen über große Entfernungen hinweg kommunizieren zu lassen. Kondome sind für ihn ebenso konviviale Werkzeuge wie das formale rechtliche Verfahren, denn beide können Menschen dabei helfen, sich aus Zwängen und Abhängigkeiten zu befreien. Illich liefert Beispiele, ohne allzu konkret zu werden, und das nicht unbegründet, denn was jeweils konvivial ist und was nicht, werden Gesellschaften an den ihnen verfügbaren Werkzeugen immer aushandeln müssen. Über die konvivialen Aspekte eines Smartphones wird heute anders diskutiert als über die des Telefons in den 70er Jahren.

Ein "gutes Leben" für alle

Mit einem Mal könnte vielen klar werden, was heute nur wenige erkennen, nämlich daß die Ausrichtung auf das "bessere" Leben das gute Leben unmöglich gemacht hat.

In den 45 Jahren seit Veröffentlichung von Illichs Selbstbegrenzung hat sich die Situation weltweit in allen von ihm kritisierten Bereichen massiv zugespitzt: Umweltzerstörung, wachsende soziale Ungleichheiten, Abhängigkeit des Menschen von der Technik und eine zwanghafte Verflechtung der gesellschaftlichen Institutionen mit Wirtschaft und Wachstum. Zugleich werden sich aber auch immer mehr Menschen dessen bewusst, in welch fast ausweglose Situation wir uns manövriert haben. Wirtschafts- und Umweltkrisen mobilisieren nicht nur die Jugend, auch viele Initiativen und Gruppierungen suchen nach alternativen Wegen; von solidarischer Landwirtschaft über Gemeinwohlökonomie und Postwachstumsökonomik bis hin zu einer vor allem in Frankreich aktiven Konvivialismus-Bewegung, die Illichs Thesen weiterdenkt, um nur einige zu nennen. Ihnen allen gemeinsam ist das Streben nach einer Neudefinition des "guten Lebens" für alle. Der Chor der Anhänger*innen einer Postwachstumsgesellschaft ist längst schon vielstimmig.


Buch und Verlag:

Buchcover: Selbstbegrenzung

Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik
C.H. Beck / 175 Seiten / ISBN: 978-3406669064. Verlagsinfo


Rezensentin:

Dr. Martina Maierhofer

Dr. Martina Maierhofer ist Romanistin, klassische Philologin und Gymnasiallehrerin in München. Sie ist außerdem Herausgeberin des Literatur-Blogs "Bouvard & Pécuchet".

 

Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 24.09.2020, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.