25.07.2019 | Interview

Bald auch am BFH nur noch E-Akten

Otto-Schmidt-Verlag

Von Alexandra Buba / Interview mit BFH-Richter Meinhard Wittwer

Die Digitalisierung macht auch vor der Justiz nicht halt, und deshalb haben Deutschlands oberste Finanzrichter vor anderthalb Jahren ihr Digitalisierungsprojekt aufgesetzt. Gesetzlich sind sie verpflichtet, bis 2026 vollständig auf elektronische Gerichtsakten umzustellen – schaffen wollen sie dies allerdings bereits bis Anfang 2022. Zu diesem ehrgeizigen Zeitplan hat STB Web Meinhard Wittwer, den Vorsitzenden Richter des VI. Senats, befragt. Er ist optimistisch, dass der BFH diesen einhalten wird - und sieht Nachholbedarf auch bei den Steuerberatern und der Verwaltung.

Neben den klassischen Sitzungssälen verfügt der BFH auch über einen elektronischen Sitzungssaal, in dem man per Videokonferenz verhandeln könnte – dies wurde bisher jedoch noch nicht angefragt. (Foto: © Bundesfinanzhof)

STB Web:
In welcher Weise setzt sich der Bundesfinanzhof mit der Digitalisierung auseinander?

Meinhard Wittwer:
Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet, bis zum 1.1.2026 alle Prozessakten elektronisch zu führen. Dies ist wünschenswert und zudem selbstverständlich, da wir mit der Zeit gehen wollen und müssen. Außerdem bringt die Digitalisierung auch für unsere interne Arbeitsorganisation Vorteile.

Von der elektronischen Akte zu unterscheiden ist der Einsatz technischer Mittel, um den Parteivortrag zu erleichtern, sprich die Videokonferenz. Das gibt es in der Finanzgerichtsbarkeit bereits seit über 15 Jahren, und es war zum Beispiel auch in Münster, wo ich zuvor tätig war, gängige Praxis. Auch der BFH verfügt über einen elektronischen Sitzungssaal, in dem man per Videokonferenz verhandeln könnte – das ist allerdings bis jetzt nicht passiert. Weiter gehende Automatisierungsschritte sind gegenwärtig nicht geplant.

STB Web:
Wie sieht denn die derzeitige Praxis aus? 

Meinhard Wittwer:
Wir haben momentan einen Botendienst im Einsatz, der im Umlaufverfahren die Papierakten durch das ganze Haus von einem Büro ins andere trägt, wenn zum Beispiel fünf Leute unterschreiben müssen. Die Bearbeitung an sich stellt sich dann von Senat zu Senat sehr unterschiedlich dar. Korrekturen werden gelegentlich noch mit Bleistift und Radiergummi gemacht, allerdings agieren nicht alle Senate so altbacken - meiner etwa arbeitet bereits elektronisch, mit marktüblichen Softwareprodukten.

Alle Richter haben zudem SINA-Laptops*, mit denen sie sich auch von zu Hause aus sicher einloggen können. Es gibt keinen Kutschenkurierdienst wie zu Kaisers Zeiten.

STB Web:
Der Online-Zugriff nützt aber nicht so viel, wenn die Akten auf dem Server noch fehlen, oder?

Meinhard Wittwer:
Ja, das ist richtig. Bis dato ist qua Gesetz immer noch die Papierakte die führende Akte, die letztlich Rechtssicherheit gibt. Diese müssen wir daher vollständig führen - und ihr auch all das, was wir elektronisch erarbeitet haben, ausgedruckt beilegen. So müssen zum Beispiel elektronisch vorgenommene Änderungen in der Papierakte dokumentiert werden.

STB Web:
Wie ist der konkrete Stand im Hinblick auf die elektronische Gerichtsakte?

Meinhard Wittwer:
Wir haben zum 1.1.2018 mit dem Projekt begonnen, an dem sieben Richterinnen und Richter sowie 14 Angehörige des nichtrichterlichen Dienstes beteiligt sind. Das Ganze ist ein Riesenaufwand, aber auch sehr genau geplant. Zurzeit definieren wir gerade den Anforderungskatalog, den wir an ein künftiges Softwareprodukt stellen.

In etwa ein bis zwei Monaten werden wir dann konkret auf verschiedene Anbieter zugehen und uns mögliche Lösungen vorstellen lassen. Nach einer eventuellen Ausschreibung und Entscheidung folgt dann eine etwa sechsmonatige Pilotphase, während dieser zwei bis drei Senate mit der ausgewählten Lösung arbeiten. Das wird für die Beteiligten eine besonders arbeitsintensive Phase, da in dieser Zeit alles doppelt erstellt und abgelegt werden muss.

STB Web:
Freiwillige werden also noch gesucht?

Meinhard Wittwer:
Ja, außer aus meinem Senat. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich motivierte Kolleginnen und Kollegen finden werden.

STB Web:
Wie geht es danach weiter?

Meinhard Wittwer:
Ganz klassisch, es folgt eine Produktverfeinerung seitens des Softwareanbieters und eine Anpassung der Abläufe auf unserer Seite. Zum 1.1.2022 wollen wir dann fertig sein und zeitgleich mit den Anwälten, die ab diesem Zeitpunkt nur noch elektronisch mit uns kommunizieren dürfen, vollständig elektronisch arbeiten.

STB Web:
Klappt das?

Meinhard Wittwer:
Ich bin ganz optimistisch, wir haben unseren Zeitplan bislang eingehalten. Er ist deshalb ehrgeiziger als der Gesetzgeber von uns fordert, weil es nicht zu verstehen wäre, wenn wir die Anwälte verpflichten, ein elektronisches Gerichtspostfach zu führen und unsererseits die Schriftsätze dann hier ausdrucken.

STB Web:
Gibt es darüber hinaus grundsätzlichen Reformbedarf bei der Finanzgerichtsbarkeit im Hinblick auf die Digitalisierung?

Meinhard Wittwer:
Ich denke, wenn wir die digitale Transformation mit der E-Akte vollzogen haben und außerdem die Möglichkeit zur Videokonferenz anbieten und eventuell auch nutzen, dann reicht das. Viel innovativer ist die Wirtschaft auch nicht.

Nachholbedarf sehe ich derzeit eher bei den Steuerberatern. Es wäre wünschenswert, wenn auch für sie ein elektronisches Postfach analog zu dem der Anwälte Pflicht würde. Sonst haben wir am Ende die meisten und größten Medienbrüche mit unserer Hauptklientel. Auch die Verwaltung schickt uns bis jetzt keine elektronischen Akten - das sollte sich baldmöglichst ändern. Sonst müssen wir dauerhaft eine große Scananlage mit Personal vorhalten. Schließlich müssen wir ja zum Beispiel auch die Briefumschläge mit einscannen, um den Zugang zu dokumentieren. Das alles ist nicht wirklich modern.

STB Web:
Welche offenen Fragen sehen Sie außerdem noch?

Meinhard Wittwer:
Geklärt werden muss noch, wo die Daten gespeichert werden. Die gesamte Justiz strebt eine klare Trennung ihrer Daten von denen der Verwaltung an. Wir wollen eine separate Ablage, weil wir vertrauliche Daten - zum Beispiel Anhänge mit Bilanzauszügen oder Steuerbescheide - archivieren, auf die nur ein sehr begrenzter Personenkreis Zugriff haben soll. Optimal wäre, den Datenbestand hier im Haus auf unseren eigenen Servern zu haben, umgekehrt hat aber der Bund ein Interesse daran, seinen großen Datenspeicher zu auszulasten. Wie die Lösung künftig aussehen wird, ist momentan noch offen.

* SINA steht für Sichere Inter-Netzwerk Architektur und ist eine Hard- und Software-Architektur, die vom deutschen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zusammen mit der secunet Security Networks AG zur Verarbeitung von sensiblem Datenmaterial in unsicheren Netzen entwickelt wurde (Anmerkung der Redaktion).


Meinhard Wittwer
stammt aus Nordrhein-Westfalen und wurde 2006 zum Richter am Bundesfinanzhof ernannt. Seit Ende 2018 hat er den Vorsitz des VI. Senats inne, der für Lohnsteuer, außergewöhnliche Belastungen sowie Land- und Forstwirtschaft zuständig ist. Er ist im Bundesfinanzhof Projektleiter für die Einführung der elektronischen Gerichtsakte.

E-Justice

Die OLG-Präsidenten haben unlängst einen Vorstoß gemacht und eine Modernisierung des Zivilgerichtsverfahrens gefordert. Der Vorsitzende der diesjährigen OLG-Präsidentenkonferenz Clemens Lückemann hat dabei auch ins Spiel gebracht, dass bei Massenverfahren, die oft gleichförmig ablaufen, etwa bei Bahn- und Flugreiseentschädigungen oder bei einfachen Mietsachen ein digitalisiertes Verfahren denkbar sei, in dem der Fall auch automatisiert geprüft wird.

Weit davon entfernt ist derzeit noch die elektronische Praxis in den einzelnen Gerichten. So differiert der Stand der Umsetzung der elektronischen Akte – die Voraussetzung für alle anderen digitalen Anwendungen ist – von Bundesland zu Bundesland. In Bayern etwa wird die führende elektronische Akte aktuell bei den Landgerichten Landshut, Regensburg und Coburg pilotiert. Beim Bundesgerichtshof können Schriftsätze in bestimmten Verfahren auf elektronischem Weg bereits seit dem Jahr 2001 eingereicht werden. Häufiges Zieldatum, das die Gerichte für die endgültige Einführung der E-Akte benennen, ist das Jahr 2022, da zu diesem Zeitpunkt auch das elektronische Anwaltspostfach verbindlich sein wird.

* Autorin:

Alexandra BubaAlexandra Buba ist freie Journalistin und spezialisiert auf die Themen der Steuerberatungsbranche (www.medientext.com). Sie schreibt regelmäßig für die STB Web-Redaktion.


Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 25.07.2019, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.