10.09.2018 | Rezension

Social Media – ein Irrweg?

Rezension zu Jaron Lanier: "Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst"

Von Manuel Maurer, STB Web

Spätestens mit dem Skandal um Facebook und Cambridge Analytica wurde einer breiten Öffentlichkeit gewahr, dass die scheinbar belanglosen Daten, die wir täglich bei der Nutzung von Online-Medien an sammelfreudige Algorithmen übergeben, in konglomerierter Form gesellschafts- und demokratieschädigend instrumentalisiert werden können.

Foto: Jaron Lanier, © 2013, Insightfoto.com

Jaron Lanier, Tech-Experte, Schriftsteller und einer der Vordenker des Internet, geht noch einen Schritt weiter: Er nennt in seinem aktuellen Buch zehn Gründe, warum man seine Social Media Accounts löschen und Schluss damit machen sollte, Facebook, Google & Co. laufend – und unentgeltlich – Daten zur Verfügung zu stellen, die dann gezielt an Werbetreibende, seien es Unternehmen, politische Akteure oder sonstige Interessengruppen, untervermietet werden, um Einfluss auf unser Verhalten und unsere Entscheidungen zu nehmen.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Jaron Lanier, der 2014 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, verteufelt weder das Internet und seine Technologien noch das Smartphone. Er sieht nicht in jeder Produkt-Empfehlung, die ein Algorithmus ausgibt, und auch nicht in jedem sozialen Netzwerk ein Problem. Differenziert betrachtet er insbesondere solche Plattformen, die einen ganz konkreten Zweck verfolgen, wie z.B. Karriere-Netzwerke, auf denen die User "noch etwas anderes zu tun haben als sozialen Eindruck zu schinden" sowie kostenpflichtige Plattformen, bei denen die User Kunden anstatt selbst das Produkt sind.

Nicht die Technologie ist das Problem, sondern das Geschäftsmodell

Was er ganz entschieden kritisiert, ist ein bestimmtes Geschäftsmodell, das sich allen voran Facebook und Google in Verbindung mit diesen Technologien zunutze machen, und das geht so: Jeder Klick, jede Interaktion, jede Reaktion auf wiederum gezielt gesetzte Anreize wird überwacht, protokolliert und ausgewertet, die daraus generierten Daten sodann dazu benutzt, sie mit anderen Daten zusammenzuführen, Benutzer- und Bewegungsprofile zu erstellen und den ganzen vermeintlich genialen Apparat dann zahlenden Akteuren zur Verfügung zu stellen, die die User einmal mehr manipulieren. Wenn es dabei um Kaufentscheidungen geht, werden viele Abwinken: "So what?!" Bei Wahlentscheidungen und gezielter Verbreitung von Fake-Informationen wird das ganze schon heikler.

Lanier distanziert sich in diesem Zusammenhang zudem vom Begriff der klassischen Werbung. Es sei falsch, von Werbung zu sprechen, wenn Menschen vorsätzlich manipuliert würden:

Heute bekommt jede Person, die in einem sozialen Netzwerk unterwegs ist, individualisierte und ständig optimierte Reize serviert, pausenlos, solange sie ihr Smartphone benutzt. Was früher Werbung genannt wurde, muss heute als unaufhörliche Verhaltensmodifikation in gigantischem Umfang verstanden werden.

Und nicht nur innerhalb dieser Plattformen passiert dies, sondern per Tracking-Codes auch auf zahlreichen Websites und Portalen, wo wir ebenfalls auf uns zugeschnittene Ads zu sehen bekommen und unsere Userdaten postwendend an den ausliefernden Server zurückgeleitet werden.

Algorithmen bestimmen, was jeder zu sehen bekommt

Wer dennoch meint, personalisierte Werbung sei doch eigentlich eine gute Sache, übersieht, dass nicht nur als Werbung gekennzeichnete Posts und Ads eingeblendet werden, sondern Algorithmen in den Social Media auch die "ganz normalen" Inhalte zusammenstellen und entscheiden, was für eine Person relevant zu sein hat.

Bei Facebook klingt das so:

"Welche Beiträge du zuerst siehst, hängt von deinen Kontakten und Aktivitäten auf Facebook ab. Auch die Anzahl der Kommentare, „Gefällt mir“-Angaben und Reaktionen, die ein Beitrag erhält sowie die Art der Story (z. B. Foto, Video, Status-Update) erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Beitrag in deinem News Feed weit oben erscheint." (Quelle)

Das beeinflusst zwangsläufig auch die journalistische Arbeit und ihre Inhalte, die dahingehend optimiert werden, in diesen Feeds möglichst nach oben zu kommen und wahrgenommen zu werden.

Fake-Accounts und Desinformationskampagnen

Doch diesen Mechanismus machen sich freilich auch massenhaft Fake-Accounts und Bots zunutze, hinter denen Akteure und Interessengruppen mit ganz gezielten Absichten stehen – bis hin zur Manipulation von Wahlentscheidungen, gesellschaftsschädigenden Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen. "Wenn dir ein Tweet auffällt, dann oft nur deshalb, weil er zunächst von unzähligen automatisierten Bots retweetet wurde." schreibt Jaron Lanier und erläutert, dass es mittlerweile eine ganze Branche gibt, die Fake-Accounts und Fake People handelt; viele davon seien für die User nicht unterscheidbar von echten Usern. Der Problematik ist mit reiner "Medienkompetenz" nicht beizukommen.

Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst, Verlag: Hoffmann und Campe

Jaron Lanier beschreibt eindringlich die eingesetzten Mechanismen und Komponenten sowie die daraus resultierenden Dynamiken in den Social Media, die dazu führen, dass diese eben nicht das häufig beschwichtigend angeführte "Spiegelbild der Gesellschaft" sind, sondern stattdessen zu einem unguten Zerrbild mutieren.

Um die Aufmerksamkeit der User zu binden und sie möglichst lange im System zu halten, würden ihre Emotionen angestachelt und Interaktionen provoziert – denn das ist der Rohstoff, mit dem die Plattformen ihre Milliarden verdienen. Dabei würden die Algorithmen Negatives wie etwa Rassismus und Hassbotschaften tendenziell bevorzugen, da diese nun mal mehr Aufmerksamkeit anziehen und mehr Wirbel verursachen. Und das ist gut für's Geschäft. Man denke an diverse Zeitungen mit ihren sensationslüsternen und tendenziösen Schlagzeilen.

"Dopamingetriebene Feedbackschleifen"

All die Likes, Däumchen und Herzchen, die ganze "dopamingetriebene Feedbackschleife" (ein Ausdruck, den frühere Führungskräfte von Facebook, die Lanier zitiert, selbst verwendet haben) und der "verrückte Wettbewerb" um soziale Anerkennung, verleiten die Nutzer selbst zu unüberlegten Aktionen, zu allzu raschem Liken, ohne wirklich gelesen und nachgedacht zu haben, sowie bisweilen auch zu einem eher hässlichen Verhalten im Schutze der Anonymität.

Kann es sein, dass es auf lange Sicht wichtiger ist, wenn man auf seine innere Stimme hört oder einer Leidenschaft für Moral oder Schönheit nachgeht, selbst wenn das auf kurze Sicht weniger erfolgreich beurteilt wird?" fragt der Autor. "Kann es sein, dass es wichtiger ist, einige wenige Menschen auf einer tiefen, ernsthaften Ebene zu erreichen als alle Menschen mit Nichts zu erreichen?"

Jaron Laniers Kritik hat sich über die Jahre gefestigt. Bereits 2010 hat er Google als das "Äquivalent zur Kommunistischen Partei" und die Online-Kultur der kostenlosen Inhalte als "Digitalen Maoismus" bezeichnet. Passend dazu plant Google aktuellen Medienberichten zufolge übrigens gerade eine Suchmaschine für den chinesischen Markt, "die der chinesischen Zensur die Arbeit abnimmt", wie tagesschau.de es ohne Umschweife formuliert hat (tagesschau.de vom 02.08.2018).

DKB

Schlagzeilen im Dauertakt

Während ich mich mit Laniers Buch und der Thematik auseinandersetze geht es munter weiter mit den Schlagzeilen: Am 21.08.2018 wird bekannt, dass in den USA Klage gegen Google eingereicht wurde, weil das Unternehmen trotz Deaktivierung in den Einstellungen offenbar den Standortverlauf von Nutzern speichert und dennoch auswertet. Schon im Dezember 2017 hat F.A.Z-Redakteur Michael Spehr in geradezu erschütternder Weise dargestellt, wie unfassbar genau Google über Android, dem weit verbreiteten Smartphone-Betriebssystem, hinter dem Google selbst steht, Standortprotokollierung der Nutzer betreibt (faz.de vom 21.12.2017).

Bereits Anfang August 2018 kam die Meldung heraus, dass WhatsApp Werbung - pardon: "unaufhörliche Verhaltensmodifikation in gigantischem Umfang" - einführen wird. Zur Erinnerung: Facebook hatte den Messenger-Dienst 2014 übernommen. Man werde die Daten der WhatsApp-User nicht mit denen von Facebook zusammenführen und außerdem solle WhatsApp werbefrei bleiben. Im Mai 2017 war die Europäische Kommission zu dem Schluss gekommen, dass Facebook bei der WhatsApp-Übernahme falsche Angaben in Bezug auf die Übernahme von Daten gemacht habe und verhängte eine Strafzahlung von 110 Millionen Euro. Diese nahm Facebook auch ganz handzahm an – Peanuts für den Konzern bei einem Kaufpreis von WhatsApp von 19 Milliarden Dollar, die nun nach einem Return-on-Investment verlangen.

Ende August berichtete die New York Times über eine neue Untersuchung, die nahe legt, dass es einen Zusammenhang zwischen einer überdurchschnittlichen Facebook-Nutzung in einem Gebiet in Deutschland und der Gewalt gegen Flüchtlinge in demselben gibt. Die Studie wird methodisch kritisiert, jedoch als besorgniserregend eingestuft.

Was sind die Alternativen?

Auch wenn Facebook zwischenzeitlich vermeldet, gegen Fake-Accounts vorzugehen, was zweifellos das Mindeste ist, hat Lanier wenig Hoffnung, dass die Konzerne aus eigener Einsicht umdenken. Auch kein Hoffen auf Regulierungen, sondern der breite Widerstand durch Löschen der Accounts könne dies auf längere Sicht bewirken. Es bräuchte eine grundlegende Änderung des ganzen Geschäftsmodells, um den gesellschafts- und demokratieschädigenden Auswirkungen Einhalt zu gebieten, etwa die Etablierung intelligenter Kostenmodelle für die Nutzung sozialer Netzwerke und weiterer, insbesondere journalistischer Inhalte im Netz, und nicht zuletzt auch für Suchergebnisse. Zudem gebe es eine Reihe Alternativen bei der Online-Nutzung, die man mit etwas Kreativität für sich entdecken könne, um (besser) informiert zu sein und Kontakte zu pflegen.

Öffentlicher Raum und Wirklichkeit

Die Problematik all der von Algorithmen bestimmten personalisierten Inhalte hat noch eine tiefere Ebene, die Lanier anspricht: Wenn man gar nicht wüsste, welche Inhalte für andere berechnet und ausgesucht würden, so der Autor, wenn "jeder von uns eine andere private Welt zu sehen bekommt, dann verlieren unsere wechselseitigen Signale ihre Bedeutung." Dadurch werde unsere Wahrnehmung der Realität beeinträchtigt, weil der öffentliche Raum schrumpfe – und damit die für den Diskurs und die Entwicklung der Gesellschaft so wichtige gemeinsame Wahrnehmungsbasis. Man könne sich die Perspektiven anderer nicht mehr bewusst machen, wenn man "von den Erfahrungen anderer Gruppen ferngehalten [wird], die separat manipuliert werden".

Für die politische Theoretikerin Hannah Arendt, die sich in ihrem Werk stark mit dem öffentlichen Raum, dem politischen Handeln und den daraus entstehenden Optionen der Freiheit befasste, setzt Öffentlichkeit mit voraus, "dass alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist [...]. Dass etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, dass ihm Wirklichkeit zukommt." Die individuelle Eitelkeit hingegen verlange "nach öffentlicher Bestätigung wie der individuelle Magen nach Nahrungsmitteln. Von diesem Standpunkt aus bekundet sich Wirklichkeit offenbar nicht in der Anwesenheit anderer, die in der Öffentlichkeit das Gleiche erfahren wie wir selbst, sondern hängt lediglich von der Intensität des subjektiven Bedürfnisses ab [...] Aber selbst wenn diese Bedürfnisse durch ein Wunder an Einfühlungsvermögen von anderen mitempfunden werden könnten, so würde immer noch ihre Flüchtigkeit dagegen sprechen, dass aus ihnen je etwas so Solides und Haltbares entstehen könnte wie eine gemeinsame Welt."

Ob Facebook tatsächlich anfänglich die Menschen miteinander verbinden, die Welt offener und Regierungen transparenter machen wollte, wie Marc Zuckerberg 2012 ausgerechtet in einem "Letter to Investors" verkündete, ist nicht mehr relevant. Die "dopamingetriebenen Feedbackschleifen" und die "unaufhörliche Verhaltensmodifikation in gigantischem Umfang" scheinen sich längst verselbstständigt zu haben – jedenfalls sei, so Jaron Lanier, der mich mit seiner Kritik überzeugt, die Gesellschaft "durch Social Media um ein paar Grautöne dunkler geworden".


* Rezension von Manuel Maurer, Redaktion STB Web.

Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 10.09.2018, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.